Immer Schön Gierig Bleiben
Tiefgarage umbaut werden sollte.
Die Baufirmen warnten den Senat vor Investitionskürzungen. Der gesamten Branche drohe die Verarmung. Stiesel musste grinsen. Er kannte so viele verarmte Bauunternehmer wie Polizeibeamte mit einer Villa im Tessin. Zehn Tage vor dem Mord, am 14. Juni stellte die Zeitung zwei Azubis bei BMW in Spandau vor. Birte, 16, machte eine Ausbildung zur Kraftfahrzeugmechatronikerin. Sie träumte davon, später einmal in einem Rennstall zu arbeiten,
am liebsten für BMW
. Helge, 19, wurde Verfahrensmechaniker für Beschichtungstechnik. Er hatte bereits ein eigenes Motorrad (eine Honda, eine BMW war noch zu teuer) und wollte sich auf anspruchsvolle Lackarbeiten spezialisieren.
In einem Bericht über arme Familien hieß es, 1921 konnte jemandem die Sozialhilfe gestrichen werden, wenn er im Kino erwischt wurde.
Stiesel wurde müde. Die vielen Details, die einen Hinweis liefern sollten, aber nur ein Mosaik von zu Recht vergessenen Alltäglichkeiten lieferten, wurden immer beliebiger. Um wieder in Stimmung zu kommen, griff er sich den Halbjahresband der Boulevardzeitung. Da herrschte gleich ein anderer Ton in den Schlagzeilen:
Bestechlicher Fahrlehrer flieht mit 14 Millionen in die Türkei und stiftet seinem Heimatdorf eine Moschee
. Oder:
Meine schöne blonde Frau ist mir entlaufen
. Oder ein Stammbaum von Knautschke, dem berühmtesten Nilpferd der Stadt. Stiesel gab sich seit fünfzehn Jahren alle Mühe, in diesem Mikrokosmos heimisch zu werden, aber es gab Grade des Wahnsinns in diesem Biotop, die konnte er weder nachvollziehen noch nachahmen. Auch die Lüsternheit durfte natürlich nicht fehlen.
Wilde Partys am Teufelssee machen FKK-Wiese zur Müllhalde. Wo sonst die Hüllen fallen, türmt sich jetzt der Verpackungsmüll
. Sex und Schmutz gehörten eben zusammen. In diese Zeit musste auch der Beginn der wilden Müllkippen gefallen sein.
Stiesel kehrte wieder zu dem ersten Folianten zurück. Er hatte die
Generation 21
vom 7. Juni gefunden. Diesmal waren es zwei Kellnerinnen aus einem Irish Pub am Hackeschen Markt:
Melanie Schwarz, 19, und Lenka Husakova, 23, freuen sich darauf, Gäste aus aller Welt in The Swan am Hackeschen Markt zu bewirten. Melanie aus Spantekow bei Anklam überbrückt die Zeit bis zum Beginn des Studiums mit einem Sommerjob. Lenka aus Ústí nad Labem will den Sommer in der Stadt verbringen, um ihre Deutschkenntnisse zu verbessern. Sie möchte später Deutschlehrerin in Tschechien werden
.
Stiesel klatschte in die Hände. Die Bibliothekarin auf ihrem Beobachtungsplatz runzelte die Stirn und drohte ihm mit dem Finger.
Er senkte den Blick und ballte ganz leise die Faust unter dem Tisch. Melanie Schwarz war sehr hübsch gewesen, als sie noch lebte. Sie hatte dem Fotografen zugezwinkert und die Hand kess in die Seite gestützt. Lenka aus Tschechien trug eine Brille und zeigte die Andeutung eines Lächelns.
War sie nicht vernommen worden? Er schlug die Akte auf, die Pachulke aus dem Archiv geholt hatte. Wenn Stiesel nicht auf sie achtgab, würde Pachulke wahrscheinlich zwischen zwei Archivschränken zermalmt werden. Auch schon 2001 hatten beinahe zwanzig verschiedene Kellnerinnen und Kellner in dem irischen Pub gearbeitet. Man hatte sich auf diejenigen beschränkt, die Melanie am Abend ihrer letzten Schicht gesehen oder privat mit ihr zu tun gehabt hatten. So privat wie man sich eben kannte, wenn man in einem Sommer Geld für die nächsten acht Monate verdienen musste. Stiesel schüttelte den Kopf. Man hatte sich sehr früh auf den Pub festgelegt. Wenn Melanie in The Swan gejobbt hatte, dann musste der Mörder in dem Pub verkehrt haben. Entweder er war ein Stammgast oder ein Mitarbeiter, der beide Frauen gekannt hatte. So lautete unausgesprochen die Arbeitshypothese. Stiesel schlug die Akte wieder zu. So einfach musste es nicht gewesen sein.
19
Die Kosmetikabteilung im KaDeWe war im Erdgeschoss. Pachulke bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge. An diesem Samstag hatte die halbe Stadt den Entschluss gefasst, mal so richtig schön shoppen zu gehen. Erst das Frühshoppen, später das Umtauschen, und danach das Zweitshoppen. Ein erfüllter Samstag in drei Akten. Pachulke traf auf eine Verkäuferin, die in affenartiger Geschwindigkeit Tuben in ein Regalfach sortierte. Sie war jung und hatte einen winzigen Brillanten auf dem rechten Nasenflügel. Außerdem trug sie weinroten Lippenstift und etwas zu viel Augen-Make-up. Auf den Tuben stand Moisturizer. Das klang sehr
Weitere Kostenlose Bücher