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Immer verlasse ich dich

Immer verlasse ich dich

Titel: Immer verlasse ich dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Scoppettone
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Schaffner wohl betrunken ist oder
Crack nimmt. Seit dem Zusammenstoß im August mit den drei Todesopfern bin ich
noch beklommener als früher, wenn ich in eine U-Bahn steige.
    Ein Mann in einer gammeligen Hose, die
fast seine abgetretenen Schuhe bedeckt, mit einer weiten schmutzigen Jacke über
einem schmierigen T-Shirt, kommt aus dem Abteil davor zu uns herein. Er hat
einen struppigen Bart und schüttelt sich wie ein Hund, der seine Flöhe
loswerden will. Ich rieche ihn auf Anhieb: Urin und Alkohol, eine
weitverbreitete Mischung.
    Meine Glückssträhne reißt ab, als er
direkt vor mir stehenbleibt, sich mit einer Hand an der Deckenstange festhält
und nach unten schaut. Seine rotgeränderten Augen sind irr, Essensreste hängen
wie winziger Baumschmuck in seinem Bart.
    »Also stellen sie auf dieser Müllkippe
jetzt Leute ein oder nicht?« schreit er mich an.
    Einstellen? Ich antworte nicht.
    »Hey, stellen sie, Scheiße noch mal,
Leute ein oder nicht?« Er beugt sich herunter, und sein Atem schlägt mir ins
Gesicht wie Höllendampf.
    Die Frage ist immer die gleiche: Soll
ich antworten, damit er weggeht, oder nicht antworten, in derselben Hoffnung?
Und wenn ich doch antworte, werde ich mein Ziel erreichen oder ihn ermutigen?
Mir gefällt die Gewaltbereitschaft, die ich in diesen zu hellen blauen Augen
sehe, nicht, die erzwungene Intimität dieser Situation.
    »Ja«, sage ich. »Sie stellen Leute ein.
Steigen Sie an der nächsten Station aus.«
    Doch er fällt nicht auf mein
durchsichtiges Täuschungsmanöver herein und beugt sich noch dichter zu mir
herunter, hält sich mit den Fingerspitzen an der Stange fest, ist unsicher auf
den Beinen. Ich habe Angst, daß er auf mich fällt.
    »Halten Sie mich für irgend so ein
Arschloch oder was?«
    In dieser Situation genau zu
antworten, wäre wohl nicht besonders klug. Ich fahre fort zu bluffen. »Ich habe
gehört, sie stellen an der nächsten Station die Leute ein«, sage ich.
    »Hat Gorbatschow Ihnen das erzählt,
oder wer?«
    Ich nicke.
    »Ja?«
    Der Zug wird langsamer und fährt in die
Eighty-sixth ein. Er späht an mir vorbei durch das Fenster.
    »Danke für den Tip«, sagt er und
überrascht mich, indem er aussteigt.
    Als sich die Türen schließen, spüre
ich, wie sich mein Körper wieder entspannt, und mir wird erst jetzt bewußt, daß
ich die ganze Zeit sehr verkrampft dagesessen hatte.
    Erst als ich mein Fahrtziel erreicht
habe, fühle ich mich besser. Bis ich nach draußen auf die 104th trete. Obwohl
das Viertel bei Tag etwas weniger bedrohlich wirkt, bleibt die Atmosphäre von
Unordnung, Chaos und Verbrechen, die beinah unweigerlich der Armut zu folgen
scheint. Die meisten Gesichter hier sind dunkelhäutig, und ich falle auf wie
eine Plastiktasse unter lauter Porzellan. Ich meide bewußt Blickkontakte mit
Passanten, bin aber trotzdem auf der Hut, meine Hand liegt in der Handtasche am
Griff meiner Waffe.
    Sashas Treppenaufgang ist diesmal
verlassen. Drinnen atme ich durch den Mund ein, als ich die zehn Stockwerke
hochsteige und keuchend zu seiner Tür gehe.
    Im ganzen Haus herrscht ein
Geräuschpegel wie von einem wildgewordenen Fliegenschwarm. Ich lege mein Ohr an
die Tür, doch es ist unmöglich, etwas von dem Innenleben in Sashas Wohnung zu
hören. Ich klopfe aufgeregt, als könnte ich ihn durch meine Beharrlichkeit
zwingen zu erscheinen.
    Doch es klappt nicht. Es fällt mir
schwer, mich damit abzufinden, daß ich den ganzen Weg für nichts und wieder
nichts zurückgelegt habe, und ich kann mich nicht überwinden, wieder zu gehen.
Die Tür der Wohnung gegenüber öffnet sich, und eine dunkelhäutige Frau in einem
knallbunten Kleid und passendem Kopftuch schaut mich über die Schulter an,
während sie zweimal abschließt. Als sie fertig ist, dreht sie sich zu mir um.
    »Was wollen Sie?« Sie ist argwöhnisch,
sauer.
    »Ich will den Mann besuchen, der hier
wohnt, Sasha Benning.«
    »Wozu?«
    Die Frage scheint unverschämt, doch
vielleicht beschützen sich die Mieter alle gegenseitig.
    »Ich bin eine Freundin.«
    »Seine Mamma ist gerade gestorben. Der
Junge nimmt’s sehr schwer.«
    »Ich weiß«, sage ich.
    »Er ist völlig daneben«, sagt sie.
    »Vom Koks?«
    Sie sieht mich skeptisch an, dann
verzieht sie die Lippen zu einem zynischen Lächeln. »Spielt es eine Rolle, was
er nimmt?«
    Ich sehe die Weisheit in ihrer Frage.
»Nein.«
    Sie nickt wie zur Bestätigung.
    Dann höre ich das Entriegeln von
Schlössern hinter mir, drehe mich um und sehe, wie Sashas Tür

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