Immer wenn er mich berührte
zweieinhalb Monaten hatte sie sich kaum verändert. Nur das blaue Jerseykostüm, das sie trug, kannte er nicht. Alles übrige war ihm vertraut, hundert lächerliche Kleinigkeiten …
Absurd zu denken, daß der Name Laurent irgendeine Bedeutung haben könnte. Seine fünf Sinne bewiesen ihm einzeln, wen er vor sich hatte. Und da Tote nicht auferstehen können, war sie also nie tot gewesen.
Der Selbstmord hatte nicht stattgefunden. Er hatte eine falsche Frau identifiziert, eine falsche Frau begraben, die Worte des Pfarrers galten einer Unbekannten: Staub bist du, und Staub sollst du werden …
Nein, Janine war nicht zu Staub geworden. Sie lebte, atmete, erhob sich in dieser Sekunde von ihrem Platz, schlüpfte in ihren Mantel, trat an die Portiersloge, gab ihren Schlüssel ab …
Jürgen sprang auf, war noch vor ihr am Ausgang, hielt ihr die Tür auf. Sie mußte dicht an ihm vorbei, mußte ihm ihr Gesicht zuwenden, mußte ihn aus nächster Nähe anschauen …
»Danke schön«, sagte sie höflich.
Und wenn er vorhin noch an Verstellung hatte glauben können, an eine Finte, an ein Theater, das sie ihm vorspielte – jetzt war er fest davon überzeugt, daß sie ihn nicht erkannte.
Janine war nie eine Schauspielerin gewesen. So ein Wiedersehen konnte sie ihm nicht vorspielen, nein, tausendmal nein, da mußte etwas anderes dahinterstecken, etwas Unheimliches und Unbegreifliches, etwas, für das er keine Erklärung finden konnte.
Um das Unbegreifliche begreifen zu können, war Jürgen zu allem entschlossen. Er wartete in der Halle einen günstigen Augenblick ab, um neben seinem Schlüssel auch den Schlüssel von Zimmer 5 vom Brett nehmen zu können.
Zwei Minuten später schloß er damit Janines Zimmer auf. Skrupel quälten ihn keine. Er befürchtete nicht einmal, daß ihn ein Zimmermädchen überraschen könnte. Er mußte hinter das Geheimnis kommen, das dieses Zimmer barg – nur daran dachte er.
Die Tür schloß er von innen ab. Er sah sich um. Das Bett war noch nicht gemacht, ihr Pyjama lag obenauf. Er stellte fest, daß sie nur wenig Garderobe besaß. Und das wenige war ihm unbekannt. Trotzdem streifte ihn so etwas wie Vertrautheit. Ihr Lippenstift lag da, Wimperntusche, ein Fläschchen Parfüm.
War das hier ihr ganzes Leben, dachte er. Ein Zimmer im Hotel Sanssouci, erster Stock … Wovon lebte sie überhaupt? Was für ein Sinn steckte hinter ihrem Verschwinden?
In einer Schreibtischschublade fand Jürgen die Antwort. Das schwarze Wachstuchheft, das er in die Hand nahm, enthielt die Protokolle von vier hypnotischen Sitzungen.
In fieberhafter Eile überflog er die Seiten. Und er begriff langsam das Unbegreifliche: Janine hatte ihre Vergangenheit vergessen. Sie war in Behandlung eines gewissen Dr. Sartorius und suchte in hypnotischen Sitzungen nach ihrem alten Leben …
Wie weit, so überlegte er sich, muß sie davon entfernt sein, wenn sie ihren eigenen Mann nicht erkannt hatte?
Er verließ das Zimmer, schloß hinter sich zu, holte seine Sachen, ging hinunter zum Portier.
»Ich möchte bitte die Rechnung«, sagte er und ärgerte sich darüber, wie hastig das klang.
»Sie reisen schon ab?«
»Ja.«
»Eine Übernachtung …« Der Portier tippte Zahlen untereinander.
Bedienung, Heizungszuschlag, Frühstück.
Es dauerte eine Ewigkeit.
Eine Ewigkeit, während der Jürgen die beiden Schlüssel ans Brett hängte. Und während der er nur einen Gedanken hatte: weg von hier.
»Rufen Sie mir bitte ein Taxi«, bat er den Portier.
Und zum Taxichauffeur sagte er: »Zum Bayerischen Hof.«
Dorthin, wo er immer wohnte. Dorthin, wo ihn der gewohnte Luxus empfangen würde: weiche Teppiche, lautlose Lifts, Blumenarrangements in der Halle. Am Empfang kannte man ihn, er gab gute Trinkgelder, er hatte immer ein teures Zimmer.
Er sehnte sich nach dieser Welt der Reichen wie jemand, der aus der Kälte kommt, sich nach Wärme und Licht sehnt.
Er sehnte sich nach Gaby, nach ihrer Nähe. Es kam ihm vor, als habe er sie hundert Jahre nicht in seinen Armen gehalten.
Das Taxi hielt vor dem Bayerischen Hof. Er stieg aus. Nein, der Hotelpalast ließ ihn nicht im Stich. Er gab ihm seine Sicherheit zurück, seine gewohnte Stimme, sein gewohntes Lächeln.
Sobald er in seinem Zimmer war, wählte er ihre Nummer.
»Hallo, Gaby?« Seine Stimme klang wie immer.
Gaby Westphal freute sich.
»Seit wann bist du in München?«
»Seit einer Stunde.«
»Du hast Glück, Liebling«, sagte sie, »ich wollte gerade zum Schlittschuhlaufen
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