Immer wenn er mich berührte
Vaters, der dreimal so alt war wie sie und sich danach zwei Jahre lang nicht mehr ins Haus traute.
»Du wirst mit Papa sprechen müssen«, sagte sie plötzlich. »Am besten heute noch oder morgen, denn ich habe ihm erzählt, daß wir heiraten müssen …«
»Müssen?« forschte er mißtrauisch.
»Ein kleiner Schwindel, Liebling«, lächelte sie. »Aber der einfachste Weg. Wenn ein Kind unterwegs ist, ist jeder Vater mit einer Blitzhochzeit einverstanden, nicht wahr?«
Er wandte ihr sein Gesicht zu. Sie las in seinen Augen Bewunderung, Bewunderung für ihren Leichtsinn, für ihre völlige Rücksichtslosigkeit, wenn es darum ging, ihren Willen durchzusetzen.
»Weißt du«, fragte er, »wo ich dich heiraten möchte? In Rio de Janeiro oder in New York. Oder vielleicht auf einem Schiff … mit fremden Trauzeugen, mit fremden Gesichtern um uns, nur ein paar Telegramme verschicken und sonst nichts.«
»Bloß du und ich«, murmelte sie, den Kopf auf seiner Schulter.
»Und weißt du, wo ich mit dir leben möchte? Auf einer einsamen Insel, wo niemand uns kennt.«
Sie schnurrte zufrieden wie eine Katze, die gekrault wird. Sie fragte nicht: Wovor willst du fliehen, Jürgen? Vor wem hast du Angst? Sie konnte nicht die Gedanken hinter seiner Stirn lesen.
Jürgen Siebert kletterte im Schlafanzug aus dem Bett und schenkte sich die letzte Tasse Kaffee aus dem Kännchen ein, das ihm der Zimmerkellner am Abend gebracht hatte.
Auf seiner Armbanduhr war es zwanzig nach ein Uhr.
Es war genauso still, wie es sich für diese späte Nachtstunde gehörte. Ruhelos begann er in seinem Zimmer umherzuwandern.
Wer sollte mich daran hindern, Gaby zu heiraten? Meine Papiere sind in Ordnung. Kein Standesbeamter kann sie anzweifeln. Ich bin Witwer. Der Totenschein ist echt, die Sterbeurkunde gültig. Nach den Akten gibt es keine Janine Siebert mehr. Sie ist am 11. Dezember vergangenen Jahres gestorben, betrauert und begraben worden.
Ich weiß nichts anderes, dachte er. Ich will sie nicht gesehen haben, ich habe sie nicht gesehen. Ich werde weiter Blumen auf ihr Grab legen.
Jürgen blieb vor dem Spiegel stehen. Elend sah er aus, grau im Gesicht, Schatten unter den Augen. Und die Angst glotzte ihn an.
Eine Patentlösung ist das nicht, Jürgen, sprach die Angst. Deine zweite Ehe wird für ungültig erklärt werden, denn sie ist unter falschen Voraussetzungen geschlossen worden. Vergiß nicht, du hast dich mit deinem richtigen Namen im Hotel Sanssouci eingetragen. Du hast vorher den Detektiv Karsch beauftragt, sie zu suchen, du hast ihm sogar ein Photo in die Hand gegeben …
Und hast du nicht Mitleid mit Janine, fragte die Angst weiter. Du hast sie doch einmal geliebt, du hast vor Gott geschworen, daß du sie nicht verläßt. Warum gehst du nicht hin, schüttelst sie und sagst: »Ich bin es, Janine, ich, dein Mann, sieh mich an, du mußt mich doch wiedererkennen …«
Kannst du dir vorstellen, wie ein Mensch verzweifelt ist, der sein Leben vergessen hat? Janine sucht ihre Vergangenheit, sie sucht dich, dich, dich …
Jürgen riß ein neues Päckchen Zigaretten auf. Er kippte den übervollen Aschenbecher in den Papierkorb. Heute nacht hätte ihn Gaby nicht allein lassen dürfen. In ihren Armen wären alle seine Zweifel gestorben.
Liebesschwüre, Küsse, Umarmungen – das wäre die Medizin gewesen. Das wäre besser gewesen als die Bücher, die er sich gekauft hatte und die jetzt überall verstreut im Zimmer lagen. Manche Sätze aus diesen psychiatrischen Lehrbüchern wußte er inzwischen auswendig: »Zeitlich oder inhaltlich begrenzte Gedächtnislücken werden Amnesien genannt. Die häufigste Art ist diejenige nach Bewußtseinsstörungen aller Art. Der Patient erwacht, weiß gar nicht, wo er ist, wie er dahingekommen und was geschehen ist … Die Amnesie braucht nicht eine vollständige zu sein … es gibt alle Übergänge vom absoluten Nichts bis zur vollen Erinnerung …«
Das absolute Nichts. Ja, das war es bei Janine. Wer seinen eigenen Mann von Angesicht zu Angesicht nicht wiedererkennt, was soll da noch je zum Vorschein kommen?
Jürgen warf sich auf sein Bett. Nein, dafür gibt es keine Therapie mehr. Wie hieß es im Lehrbuch? »Die Erinnerungen werden mühsam oder gar nicht zugänglich. Oft wird statt des Wesentlichen entweder nur ein verschwommener Eindruck oder eine unbedeutende Einzelheit erinnert. Nicht selten sind Amnesien bei eigentlichen Geisteskranken …«
Jürgen rief sich ihr Gesicht ins Gedächtnis zurück, den
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