Immer wenn er mich berührte
Blick von der Straße und sah sie sehr ernst und liebevoll an. »Janine, warum müssen wir heute immer von Vergangenem sprechen? Ich habe sehr viel durchgemacht. Erst, seit es dich gibt, fange ich wieder an, ein Mensch zu sein. Ich liebe dich, Janine.«
Sie biß sich auf die Lippen. Was für ein Spiel war das, in das sie sich eingelassen hatte? Ein Drama? Eine Groteske? Eine Komödie?
»Ich möchte dich besser kennenlernen, weißt du«, sagte sie. »Ich möchte wissen, wie du lebst. Wie du wohnst, zum Beispiel …«
»Ich wohne in Mariendorf«, antwortete er. Sie sah ihm an, daß er sich bei dieser Art von Unterhaltung nicht wohl fühlte.
»In welcher Straße?« bohrte sie.
»Ach, ein Haus in einem Garten, du wirst es ja kennenlernen.«
Ich kenne es ganz gut, dachte sie. Jede Stufe vor der Haustür. Jeden Fenstergriff. Den blauen Teppich im Wohnzimmer. Die schwedische Anrichte, die wir erst vor vier oder fünf Monaten gekauft haben. Mein russischer Wein wird eingegangen sein, er war so empfindlich. Aber die Spieluhr wird noch dort stehen, die kleine runde silberne, über die wir uns so gefreut haben und der wir so oft zuhörten. O sole mio, spielte sie, und wir haben sie in Venedig gekauft, du und ich …
Leise summte sie vor sich hin, Ton für Ton. O sole mi-o, o sole mi-o …
Da erschrak er zum ersten Mal. Mit einem Ruck wandte er sich ihr zu.
»Was ist das für ein Lied?«
Sie lächelte, nahm die Brille ab, stellte sich seinem Blick.
»Ein italienisches Volkslied. O sole mio.«
Janine sah seinen Argwohn erwachen, sah, wie Jürgen in ihrem Gesicht forschte. Aber sie wußte, daß ihre Augen so klar und blau waren wie immer. Ich kann auch Theater spielen, wenn es sein muß, Jürgen. Und sein Argwohn zog sich wieder zurück wie eine Schnecke in ihr Haus.
Er wollte zärtlich in ihr Haar greifen, aber sie wich ihm mit einer kleinen Kopfbewegung aus. Ihn dabei anzusehen, das brachte sie nicht fertig. Wie machte er das, daß seine Augen so dunkel wurden, wenn er sich ihr zuwandte, vor Liebe dunkel, hatte sie früher gedacht. Und wo nahm er das Gefühl her, das er in seine Stimme, in sein Lächeln legte?
Alles in ihr wurde steif und kalt. Versuch nicht, mich zu küssen, dachte sie. Dann werde ich dir die Wahrheit ins Gesicht schreien. Ich kann es nicht mehr ertragen, wenn du mich berührst …
Aber er küßte sie nicht. Sie fuhren durch Wälder, und hoch über ihnen auf der blauen Himmelsstraße zwischen den Bäumen flog ihnen ein Flugzeug voraus.
Sie starrte hinauf.
»Früher mal bin ich viel geflogen«, sagte sie. »Ich war Hostess bei einer Fluggesellschaft, weißt du.«
Diesmal war der Argwohn noch schneller wach. War er nicht richtig blaß geworden, oder bildete sie sich das ein?
»Bei welcher Fluggesellschaft denn?« fragte er betont gleichmütig.
Das weißt du doch, mein Lieber. Bei der Lufthansa natürlich. Du hast doch nicht vergessen, an welchem Schalter wir uns auf dem Flughafen in Orly kennenlernten, wie?
»Ach, bei einer marokkanischen Linie«, antwortete sie.
Es war eine Rache, die ihr guttat: seine Sicherheit mit einer kleinen Bemerkung zu irritieren, seine Hände unruhig werden zu sehen, den heiseren Unterton in seiner Stimme zu vernehmen.
Das Auto quälte sich einen Weg hoch. Jürgen stieg aus und öffnete ein Tor.
»Kannst du mir noch nicht sagen, wohin wir fahren?«
»Doch«, sagte er und fand plötzlich wieder zu seiner sorglosen Laune zurück. »Da vorn siehst du es.«
Janine folgte seinem Zeigefinger und erblickte, unter Bäumen fast verborgen, ein Haus aus dunklen Baumstämmen mit grünen Fensterläden, die alle geschlossen waren.
»Mein Jagdhaus. Gefällt es dir?«
»Ich sehe ein bißchen wenig …«
Lügner, dachte sie kalt. Du hast doch kein Jagdhaus. Du lügst, wenn du den Mund aufmachst. Ich habe genug von dir, genug von dir. Du ekelst mich an. Ich will, daß das Spiel aus ist.
Langsam fuhren sie auf dem schmalen Weg bis vors Haus. Jürgen sprang aus dem Auto, riß den Schlag auf, half Janine heraus.
Das Wasser tropfte von den Dachrinnen, und es war sehr still hier. Und sehr einsam.
»Komm«, sagte Jürgen und zog sie an sich. »Es ist so schön, an einem Tag wie heute mit dir hier zu sein, ganz allein, ohne irgend jemanden, der uns stört.«
Sie spürte seinen Mund, und einen Herzschlag lang war sie wie gelähmt. Dann riß sie sich aus seinen Armen.
»Möchtest du mich nicht über die Schwelle tragen, Jürgen«, schrie sie. »So wie damals nach der Hochzeit in
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