Immer wenn er mich berührte
für eine Straße sie nehmen.«
Nachdem sie Kochel passiert hatten, wurde es einsam. Der Verkehr ließ stark nach.
Haller kurbelte das Fenster ein Stück herunter. Ein Wasserfall rauschte. Felswände ragten auf. Links eine Gedenktafel, rechts dunkle, hohe Fichten.
»Halten Sie mehr Abstand«, mahnte Karsch, »mir scheint, das Mädchen hat sich jetzt schon zwei- oder dreimal umgedreht. Eine Kurve sollte zwischen uns liegen …«
Haller blieb etwas zurück. Seine Hände kribbelten. Es kostete ihn Kraft, ruhig zu bleiben. Zweifel quälten ihn. Wohin mochte diese Reise führen? War sie überhaupt sinnvoll? Oder führte sie am Ende in eine Sackgasse? Und was, wenn Janine gar nicht mehr lebte? Was nützte es ihm, wenn er ein Verbrechen aufdeckte?
Liebe – wer fragte im Augenblick danach?
Die Straße führte ein Stück den Walchensee entlang. Die Saison hatte noch nicht begonnen. Die großen Hotels sahen leer und verlassen aus. Nur in einzelnen Häusern brannte Licht.
Eine Kurve, noch eine Kurve, dann eine Kuppe … als sie oben waren, trat Haller auf die Bremse. Die Schlußlichter des roten Sportwagens waren wie vom Erdboden verschwunden.
Haller stellte den Motor ab, schaltete die Lichter aus. Angestrengt lauschten sie in die Nacht hinaus.
Links ein Motorengeräusch? Oder kam es von rechts? Oder bildeten sie sich das nur ein?
»Auf jeden Fall sind sie hier abgebogen«, stellte Karsch fest. »Drehen wir um … sehen wir uns die einmündenden Wege an.«
Haller wendete. Im zweiten Gang fuhr er langsam zurück. Unglücklicherweise gab es drei Möglichkeiten. Ein Weg, der sofort steil anstieg und nicht danach aussah, als könnte ihn überhaupt ein Auto befahren. Eine halbwegs passable Schotterstraße, die einem unleserlich gewordenen Schild nach zu irgendeinem Dorf führte. Und drittens noch ein Weg, der der Richtung nach direkt zum See runter führte und die Aufschrift ›Privatstraße‹ trug.
Ein einsames Ferienhaus am See – sollte das nicht das Ziel sein? Haller und Karsch dachten spontan das Gleiche und entschieden sich für den dritten, den falschen Weg …
Janine war nicht tot. Denn Tote können nicht träumen. Sie aber träumte, daß sie ein kleines Mädchen sei. Blonde Zöpfe hingen ihr herab, und sie spielte in einer Puppenstube. Sie besaß drei kleine und zwei große Puppen. Die schönste hieß Laura, sie hatte echte Haare, und Mutti hatte ihr ein rotes Samtkleid genäht.
Danach war sie wach. Und die Puppen waren verschwunden. Und sie wollte schreien, aber sie konnte nicht. Und sie wollte aufstehen, aber es ging nicht. Und sie wollte ihren Arm heben, aber er gehorchte nicht.
Alle Anstrengungen halfen nichts. Sie war so leblos wie die Puppen, von denen sie geträumt hatte. Ohne fremde Hilfe war sie außerstande, ihren Kopf zu bewegen. Es war noch schlimmer: sie fühlte ihren Körper gar nicht.
Nur ihre Augen konnte sie bewegen, nach links, nach rechts, nach oben, nach unten. Aber sie sah nichts, denn es war dunkel. Und sie hörte nichts, denn es war still.
Totenstill.
In diesen ohnmächtigen, entsetzlichen Zustand schoben sich klar und deutlich die Erinnerungen. Da fehlte kein Stück. Lückenlos hätte sie ihr Leben zusammensetzen können.
Jürgens Hände sah sie wieder, seine weichen, zärtlichen Hände, die sich wie eiserne Klammern um ihren Hals geschlossen hatten. Es war ihr, als müßte sie es noch einmal erleben.
Die entsetzliche Sekunde kehrte zurück, in der ihr klar geworden war, daß ihr eigener Mann sie umbringen wollte. Die Sekunde, in der sie erkannte, daß er kein Mitleid haben würde.
Wie lange war das her?
Den Begriff der Zeit hatte sie verloren. Stunden konnten vergangen sein, vielleicht auch Tage. Nur ihre Umgebung begann sie allmählich zu erahnen. Nachdem sie ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatte, konnte sie die Umrisse eines Zimmers ausmachen, einen Tisch, den Schirm einer Lampe, ein Stück Wand, eine Türe.
Der Boden, auf dem sie lag, roch nach altem Holz. Janine war fast sicher, daß sie sich noch in dem einsamen Jagdhaus befand, in das sie Jürgen gefolgt war, nicht, weil sie ihn noch liebte, sondern weil sie ihm die Maske herunterreißen wollte, weil sie ihm endlich die Wahrheit ins Gesicht schreien wollte.
Es muß draußen Nacht sein, dachte sie. Wenn es nicht Nacht wäre, würde ein bißchen Licht hereinfallen. Ich werde die Nächte zählen, und die Tage … bis ich nicht mehr zählen kann.
Stephan wird noch verreist sein. Wenn er zurückkommt, wird er
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