Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Titel: Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Schädlich
Vom Netzwerk:
manche lehnten ihre Teilnahme ab. Sie wollten sich nicht in Gefahr bringen.
    Während auf der Ostseite der Mauer die Vorbereitungen liefen, sprach Günter Grass auf der Westseite Schriftstellerkollegen an.
    Ich will die Hintergründe wissen, die Motivation verstehen, das Ganze noch einmal ins Licht der Zeitumstände rücken, lasse mir von Hans Christoph Buch erzählen: Er sei durch Günter Grass und Nicolas Born dazugekommen. Grass habe herumgefragt, Mitstreiter gesucht. Auch auf westlicher Seite sei vorsichtig ausgewählt worden. »Man achtete darauf, weder ›kalte Krieger‹ noch Kommunisten einzuladen. Man wollte keine eindeutigen Befürworter oder Lobredner der DDR dabeihaben, genausowenig wollte man entschiedene Gegner der DDR, darin lag auch ein Stück Selbstzensur.«
    Das erste Werkstattgespräch, zu dem Günter Grass, Uwe Johnson, Bernd Jentzsch, Karl Mickel, Hans Christoph Buch, Nicolas Born, Heinz Czechowski und Hans Joachim Schädlich in die Wohnung von Bernd Jentzsch in Berlin-Wilhelmshagen kamen, fand am 1. Mai 1974 statt. Unsicherheit, Aufregung auf beiden Seiten, denn es war etwas Neues, etwas noch nie Dagewesenes, besonders für die aus dem Osten. Eine Gruppe mit einem Zahlendreher, so etwas wie eine Neuauflage der Gruppe 47, auch eine Art von Literaturbörse, wo weniger bekannte Autoren Aufmerksamkeit finden und sich einen Namen machen konnten. Um die Treffen nicht zu gefährden, war vereinbart worden, Gespräche über politische Fragen auszusparen, ein Erbe der Gruppe 47. Hans Werner Richter hatte damals solche Diskussionen verboten, weil die Gruppe sonst auseinanderfiele.
    Es gab ein strenges Ritual. Waren alle da, wurden Zettel mit den Namen der Teilnehmer geschrieben, die aus einem Hut gezogen werden mussten. Fünfzehn Minuten lesen, fünfzehn Minuten Diskussion. Auch der Vater las an jenem Abend zwei literarische Texte, Lebenszeichen und Unter den achtzehn Türmen der Maria von dem Teyn.
    Nach der Lesung war es still, bis Uwe Johnson sagte, ihm sei seit langer Zeit nichts mehr von solcher Kraft von innen heraus beschrieben zu Ohren gekommen. Die Geschichten seien mit einer Sorgfalt geschrieben, die man sich in der Bundesrepublik nicht mehr leisten könne. Er forderte den Vater auf, binnen eines Jahres einen Band vorzulegen.
    Als alle gelesen hatten, wurde gegessen und geplaudert, im verrauchten Wohnzimmer, stehend in der Küche. Immer auch mit dem Blick auf die Zeit, denn bis Mitternacht mussten die Besucher aus dem Westen zurück über die Grenze. Spät in der Nacht ging man auseinander. Voller Geschichten von hier und da. Vor den Augen neue Gesichter, im Ohr die Stimmen. Und vor allem mit dem Gefühl, dass es nicht das letzte Mal gewesen ist.
    Hans Christoph Buch erzählt: »Die Sache war spannend, weil man Einblicke in den Alltag bekam. Wir waren ein Freundeskreis, keine politische Partei oder Verschwörung von Gesinnungsgenossen. Die sich da zusammenfanden, waren Schriftsteller aus beiden Deutschlands, die sich für Literatur interessierten und diese möglichst frei halten wollten von Ideologie. Dennoch war es gleichzeitig doch das, was die Stasi dahinter vermutete, ein Abtasten, eine erste Kontaktaufnahme im Sinn von: Gibt es noch Gemeinsamkeiten? Das interessierte Günter Grass. Schließlich hatte er schon zu einer Zeit, als das noch nicht Mode war, immer betont: Es gibt nur eine deutsche Literatur. In diesem Punkt war er kompromisslos. Er meinte, staatliche Restriktionen und Sprachregelungen, die den DDR-Autoren aufgezwungen wurden, ja selbst die ideologische Vereinnahmung der Literatur hätten nicht dazu geführt, dass es zwei Literaturen gab. Die ernstzunehmende Literatur – Literatur großgeschrieben –, die sich nicht in den Dienst des Staates stellte, sprach dieselbe Sprache auf beiden Seiten.
    Ich war neugierig auf die Literatur, die von drüben kam. Diese Neugier war auf beiden Seiten ausgeprägt, bezog sich auf Texte und Personen, was machen die da, wie leben die, was können wir tun, um ihnen zu helfen, was wird gebraucht? Die Neugier verband sich mit einem gewissen Wohlwollen, auch DDR-Bonus genannt. Ostdeutsche Autoren wurden im Westen bevorzugt behandelt, waren der Aufmerksamkeit sicher, die Westautoren so nicht bekamen. Man war bereit, zwischen den Zeilen zu lesen, und vermutete Oppositionssignale auch da, wo es gar keine gab. Diejenigen, die ihr gutes Einvernehmen mit dem Staat nicht aufs Spiel setzen wollten, wurden zu den Treffen gar nicht erst eingeladen. Vielleicht

Weitere Kostenlose Bücher