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Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Titel: Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Schädlich
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waren. Die nächsten kamen an und lobten die Hinweise auf der Straße. Sofort stürzte jemand runter und riss die Zettel ab. Allzu leicht wollte man es der Stasi auch nicht machen.
    Dass sie Bescheid wusste, lese ich in den Akten. Das Interesse der Stasi für diese Ost-West-Lesungen wuchs von Jahr zu Jahr. Dem MfS war zu Ohren gekommen, dass an einem Treffen bei Sarah Kirsch 1976 voraussichtlich folgende Personen teilnehmen sollten: »Günter Grass (BRD), Nikolas Born (BRD/WB), Christian Buch (?), Gert-Friedrich Jonke (Österreich), Peter Schneider (?), Christoph Meckel (WB?), Sarah Kirsch DDR, Günter Kunert DDR, Rainer Kirsch DDR.« Der Onkel berichtete »auftragsgemäß«, er sollte »den Kontakt zum Bruder festigen, um eine Einladung zu einer Diskussionsrunde zu erhalten«, den »Kontakt zu S. Kirsch ausbauen«. Der Onkel sollte sich anstrengen.
    Deshalb machte er seinem Führungsoffizier vor, er stehe kurz vor der Teilnahme an einem der privaten Ost-West-Schriftstellergespräche.
    Ich lese: »Im Zusammenhang mit einem Gespräch über familiäre Probleme, bei denen der IM seinem Bruder Dr. Sch. Hilfe anbot, stellte der IM die Frage, ob für ihn nicht einmal die Möglichkeit besteht, an einer Diskussion mit den BRD-Schriftstellern und vor allem mit G. Grass teilzunehmen. Der Bruder des IM antwortete erst mit der Bemerkung: ›Ich kann doch dorthin nicht irgend jemanden mitnehmen, stell dir das nicht so einfach vor.‹ Erst nach der Bemerkung der Ehefrau: ›Der (IM) ist doch nicht irgend jemand und außerdem ist man in diesem Kreis doch über Dr. Sch. (den IM) informiert, da du ja schon über ihn gesprochen hast‹, erklärte sich der Bruder (Dr. Sch.) des IM bereit, diesen zu der am 27.2.76 in der Wohnung der DDR-Schriftstellerin Sarah Kirsch stattfindenden Zusammenkunft mitzunehmen.«
    Das war eine Lüge. In Wahrheit hat sich der Vater nie angeboten, ihn mitzunehmen, und er hat ihn auch nie mitgenommen.
    Ich lese weiter: »Der IM erklärte sich bereit, alle Möglichkeiten zu nutzen, um in Gesprächen von seinem Bruder in Erfahrung zu bringen, welche Probleme bei vergangenen Zusammenkünften diskutiert wurden und welche Rolle einzelne DDR- und BRD-Schriftsteller dabei gespielt haben. Er will dafür vor allem die gemeinsame Fahrt mit seinem Bruder nach Warschau nutzen. Der IM versucht außerdem, rechtzeitig die Termine weiterer Zusammenkünfte in Erfahrung zu bringen, wobei er dafür die Mitteilsamkeit seiner Schwägerin nutzen will. Außerdem will der IM mit der Begründung, Grass u.a. BRD-Schriftsteller gern einmal näher persönlich kennenzulernen, über seinen Bruder eine Einladung zur nächsten Zusammenkunft zu erwirken.
    Der IM teilte jedoch mit, daß er für die Realisierung dieses Vorhabens eine gewisse Zeit benötigt, damit sein Interesse für diese ›literarischen Diskussionen‹ nicht so plötzlich kommt, da er sich in der Vergangenheit für das literarische Schaffen seines Bruders kaum interessiert hat. Es gab in einem Fall sogar einen Streit zwischen beiden wegen einer vom Bruder verfaßten Erzählung, in der der IM eine bestimmte Rolle spielte.«
    Um Informationen über die Treffen zu bekommen, wurde vom MfS sogar erwogen, den Vater zur Mitarbeit zu gewinnen.
    »Auf die Frage an den IM, wie die Reaktion seines Bruders wäre, wenn dieser durch das MfS wegen der genannten Zusammenkünfte angesprochen und zu einer Mitarbeit aufgefordert würde, antwortete er, daß sein Bruder ›auf keinen Fall einer Zusammenarbeit mit dem MfS seine Zustimmung‹ geben würde. Er fügte hinzu, ›so unterschiedlich können Brüder auf ein und dasselbe Problem reagieren‹.«
    Tatsächlich kamen am 27. Februar 1976 in die kleine Zweizimmerwohnung auf der Fischerinsel in Ost-Berlin: Günter Grass, Hans Christoph Buch, Rolf Haufs, Helmut Eisendle, Christoph Meckel, Jürgen Theobaldy, Gert Friedrich Jonke aus dem Westen und Heinz Czechowski, Hans Joachim Schädlich, Sibylle Hentschke und Elke Erb aus dem Osten. Im Gegensatz zu den anderen Örtlichkeiten konnte hier nicht gekocht werden. Also ging es am Abend ins feine und neuerrichtete Ermeler-Haus ganz in der Nähe, wo für Gäste aus dem Westen immer Platz war, es aber Bier nur in Verbindung mit Sekt gab. »Herrenfrühstück« hieß das dort. Am Ende standen in der Mitte des großen Tisches Dutzende ungeöffnete kleine Sektflaschen. Die Kellner, ein wenig abseits, beäugten empört die laute und »dekadente« Gesellschaft.

    Insgesamt gab es bis zu unserer Ausreise

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