Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
wollten sie auch nicht. Es war eine Zwischenlage zwischen Opposition und Dissidenz auf der einen und geduldeter Kritik auf der anderen Seite, im Westen gekoppelt mit Neugier im Zeichen der Entspannungspolitik, die Hoffnungen geweckt hatte. Biermann war ja noch nicht ausgewiesen. Andererseits hatten wir keine Illusionen über die Diktatur, den totalitären Staat und die Zensur, davon haben wir auch einiges mitgekriegt, besonders, wenn es um die Texte deines Vaters ging. Politisch gesehen gab es eine fatale Tendenz zur Gleichsetzung beider deutscher Staaten mit dem Argument, auch die Bundesrepublik sei ein repressiver Staat. Dass in Wahrheit Welten, Abgründe klafften zwischen einer institutionalisierten Diktatur und einer unperfekten Demokratie, in der es soziale Mißstände und politische Übergriffe gab, wurde weitgehend verdrängt. Die Konvergenztheorie war damals Mode, man meinte, beide deutsche Staaten, ja Staaten überhaupt, seien repressiv, maßten sich ein Gewaltmonopol gegen die Bürger an. Das war nicht logisch durchdacht, aber psychologisch verständlich, denn in Westdeutschland lief die Terrorismusfahndung auf Hochtouren. Überall hingen Fahndungsplakate, und man wurde manchmal schikanös kontrolliert. Es lag nahe zu sagen, die da drüben schützen sich auch gegen Staatsfeinde, die Repression ist nur etwas plumper und ungeschickter als im Westen. Solche Illusionen waren damals weitverbreitet und vertrugen sich durchaus mit dem Wissen, dass es gleichwohl fundamentale Unterschiede gab.«
Schon im August fand das nächste Werkstattgespräch statt, und zwar bei uns in Köpenick, wohin wir umgezogen waren. In der Wohnung in der Rotkäppchenstraße waren die Schriftsteller viermal.
Kamen die Schriftsteller zu uns, wurde überlegt, was es diesmal zu essen geben sollte. Die Petersilie kam aus Bad Saarow, das Fleisch aus Jena, das Gemüse aus Perleberg. Im Besorgen war man erfinderisch. Jede Zusammenkunft war auch ein Fest, auf das man sich ein Vierteljahr vorher freute.
Mut, an diesen Runden teilzunehmen, die in einem Turnus von einem Vierteljahr stattfanden, gehörte dazu, besonders für diejenigen, die nicht privilegiert waren. Da es aber private Zusammenkünfte waren, konnten sie von seiten der DDR nicht einfach unterbunden werden, ohne eine Öffentlichkeit in den Westmedien heraufzubeschwören. Dafür war der Kreis zu prominent besetzt, von beiden Seiten. Für die, die aus dem Westen kamen, bestand keine Gefahr. Sie konnten höchstens beim nächsten Mal an der Grenze zurückgewiesen werden, Schikane genug. Die Westschriftsteller, allen voran Günter Grass, waren für die aus dem Osten auch ein Schutz vor der Gefahr, die lauerte. Zum Beispiel in einem grauen Bauwagen vor unserer Gartenpforte, der dort wochenlang geparkt war, und keine Baustelle weit und breit. Gefahr forderte die Teilnehmer aber auch heraus, der Gefahr etwas entgegenzusetzen. Ein Zeichen, dass man sich nicht einschüchtern ließ.
1976 gab es eine Anweisung, es ist ein handgeschriebener Zettel, unterzeichnet von »Gen. Buhl«, den ich in den Akten fand. »Aufklärung der Wohnung des Bruders des IM wo Literar.-kreis tagt.« Erleichterung fast, als ich das lese, dass die Mutter nicht unter Verfolgungswahn litt, wenn sie sagte, sie glaube, dass unser Telefon abgehört werde. Auch das ist festgehalten. »Die Sch., Maria äußerte einmal in einer Diskussion, daß sie vermute, daß der Telefonanschluß des Sch. von der Staatssicherheit überwacht würde. Sie begründete dies mit einer Überprüfung des Telefons durch Fernmeldemonteure.« Gewissheit, als ich ein Vernichtungsprotokoll in den Akten des Vaters fand. »Am 17.8.1983 wurden die Informationen des Auftrages 26/7/A 459/77, Nr. 1–297 vernichtet.« (Abteilung 26 war zuständig für akustische Raumüberwachung, A steht für Telefonüberwachung.)
Dass strengste Geheimhaltung und Vorsicht geboten waren, war eigentlich klar, und doch passierte auch so etwas: Juni 1975, Treffen in der Wohnung von Sibylle Hentschke am Ostkreuz, im Friedrichshain. Noch heute, obwohl die Häuser saniert sind und der S-Bahnhof langsam umgebaut wird, kann man an manchem Überbleibsel erahnen, dass es zu DDR-Zeiten eine verlassene, finstere Ecke war. Ortskundige fanden den Weg leicht, die von der anderen Seite irrten umher, suchten, Telefon gab es nicht. Als die ersten Gäste eintrafen, verschwand einer aus dem Westen ohne ein Wort und pinnte Zettel an die Bäume mit der Wegbeschreibung für die, die ortsunkundig
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