Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
nur, hoffentlich bleibt der Fernseher heil. Merkwürdig, wie man sich an Dinge klammerte, nur weil man das Gefühl hatte, dass man das nicht auch noch verlieren wollte«, erzählt die Mutter.
In den ersten Tagen wohnte die Mutter bei einer Freundin, dann in einer winzigen Einzimmerwohnung in einem Hotel. Die Stelle war auf ein Jahr befristet, und niemand wusste, was danach werden würde.
Die Schwester kam zum Vater und seiner neuen Lebensgefährtin. Ich blieb in der Berliner Wohnung, aus der eine WG wurde. Drei junge Männer zogen ein. Einer, von dem ich nicht mehr weiß, was er machte und woher er kam, einer, der Türke war und halbreligiös, und einer, ein Kunststudent aus Stuttgart, der Pullover strickte. Der Kunststudent küsste mich und zeichnete mir Clowns auf A3-Papier. Der türkischstämmige junge Mann war wie ein Bruder und höchst zuvorkommend. Der andere war nie da. Die Wohnung wurde umgestellt und die Wände schwarz gestrichen, oder bunt. Ich hielt es nicht lange aus, dann floh ich, zu meinem Freund und seiner Mutter. Endlich hatte auch ich einen. Wie lange hatte ich gewartet. Das hässliche Entlein mit der großen Brille, es wollte nichts werden. Und dann war die Brille weg, und es wurde etwas. Das erste Rendezvous, am Südstern, irgendwann Anfang 1983, stundenlang geredet, und als wir aus der Kneipe kamen, fuhr keine Bahn mehr, und die Stadt war weiß vor Schnee. Bei dem Freund zog ich ein. Bei dem Freund fühlte ich mich geborgen. Auch dank seiner Mutter. Sie nahm mich auf wie eine Tochter, und ich nannte sie Muhme.
Im Sommer fuhren wir, die Mutter, die Schwester und ich, in den Schwarzwald, hatten ein Haus, urwüchsig und schön. Eine Freundin aus alten DDR-Tagen und deren Tochter waren auch mit. Ein Frauenurlaub, die Abende auf der Bank vor dem Haus, rund herum Natur. Die Frauen sprachen über die Vergangenheit, und die Mutter hob an, »Jugend erwache, erheb dich jetzt«, die Freundin sang das Lied zu Ende. Und so ging es. Die Mutter: »Du hast ja ein Ziel vor Augen«, die Freundin: »Damit du in der Welt dich nicht irrst …« Die Mutter: »Sag mir, wo du stehst und welchen Weg du gehst!«, die Freundin: »Zurück oder vorwärts, du musst dich entschließen!« Hätte es die Freundin nicht gegeben, die Schwarzwälder hätten vom DDR-Liedrepertoire immer nur die Anfangszeilen gehört, mehr konnte die Mutter nicht. So kamen sie in den vollen Genuss, zum Spaß der Mütter und zur Beschämung der Kinder.
Nach den Ferien schrieb die Mutter an die beste Freundin: »Susanne, die jetzt in die 12. Klasse geht, lebt tapfer ihr Leben. Aber sie ist eigentlich mit all den Aufgaben überfordert und hat zum Besprechen und Raten immer nur Freunde. Unser Verhältnis ist jetzt sehr gut, sehr ausgeglichen und freundschaftlich, und um so mehr fehlen wir uns beide. Anna geht in eine neue Schule. Jochen hat sie umgeschult wegen der Entfernung, und darüber bin ich nicht froh. Mein Argument, sie nicht mit nach Stuttgart zu nehmen und sie lieber in ihrer vertrauten Umgebung zu lassen, ist richtig sinnentleert worden dadurch.«
Verstreut in alle Winde, unbehaust, unstet. Ich hier, die Schwester da, die Mutter dort. Das Leben immer unübersichtlicher. Den Vater sah ich in jenem Jahr nur selten. Nur dann, wenn ich die Schwester bei ihm und der neuen Lebensgefährtin besuchte. Ich hatte das Gefühl, das war eine eigene Familie, aber die Schwester sagte, da gehöre sie nicht hin. Den Bruder sah ich auf Hiddensee, das war die letzte Fahrt zu ihm, das letzte Wiedersehen vor dem Mauerfall.
Viel öfter sah ich den Onkel, er war nicht nur ein Stück Familie für mich, er war auch ein guter Kumpel, durch und durch, mein bester Freund. Den besuchte ich, wenn ich Zeit hatte. Ich sehe, wie er da stand, S-Bahnhof Friedrichstraße, wie ich auf ihn zulief, er mich in den Arm nahm. Dann fuhren wir zu ihm und kochten. Oder wir gingen an der Ecke Hans-Otto-Straße, in der er wohnte, in die Kneipe. Oder wir schlenderten durch den Böcklerpark. Vielleicht saßen wir sogar auf der Bank, auf die er sich im Dezember 2007 ein letztes Mal setzte. Jedenfalls brachte er mich immer wieder auch zurück zur Friedrichstraße. Mir fiel mit jedem Mal der Abschied schwerer. Einmal küsste er mich auf den Mund, viel zu lange für einen Onkel. Heute wundert mich auch das nicht mehr. Damals war ich verwirrt und behielt es für mich.
Ende 1983 schrieb die Mutter aus Stuttgart an die beste Freundin: »Wie es aussieht, geht die Arbeit hier zum Januar 84
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