Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
auch schon achtzehn Jahre alt. Hatte ja schon zwei Jahre Übung. Ich rappelte mich auf und ging zur Schule. Meistens jedenfalls. Nicht immer pünktlich, aber doch da. In der Manitiusstraße kochte ich mir Mittagessen. In der Manitiusstraße empfing ich Freunde. In der Manitiusstraße hatte ich auch manchmal Hunger, wenn das Geld für den Monat ausgegeben war. Wirtschaften musste ich noch lernen. Von der Manitiusstraße aus fuhr ich nicht mehr nach Kreuzberg, sondern nach Schöneberg, mit dem Fahrrad, das mir der Lehrer gegeben hatte. Schöneberg war jetzt meine Gegend, dort war das andere Berlin, das der ehemaligen 68er, der Lehrer zeigte es mir. Café M, das gezwungen wurde, den Namen zu ändern, weil es ursprünglich wie die Bahn-Gastronomiegesellschaft der DDR geheißen hatte: Mitropa. Aber nicht um des Namens willen wurde es mein Lieblingsplatz. Die ganze Gegend rund um den Nollendorf- und Winterfeldplatz, dieses »Dorfidyll bei der Untergrundbahn«, wie Joseph Roth es einst genannt hat, zog mich an. Die Menschen, nicht so kaputt wie in Kreuzberg, schon was geworden und trotzdem noch nicht alt, Musiker, Maler, Lebenskünstler.
Ich machte es wie sie, ich setzte mich in die Sonne, bestellte Milchkaffee und las Bücher. Eins nach dem anderen. Auch, weil ich unsicher war, weil ich vertieft wirken wollte, nicht allein und wartend, sondern beschäftigt mit mir selber. Die Welt war mir noch zu groß. Die Welt in Büchern überschaubarer.
Nebenbei lernte ich, Abschlussprüfungen standen bevor. Die Mutter schrieb an die beste Freundin: »Susanne steckt in ihrem Abitur. Das Schriftliche hat sie hinter sich. Ende Oktober fährt sie für einige Tage nach Jena.« Das war 1984. Ich fange an zu rechnen. In den sieben Jahren seit unserer Ausbürgerung aus der DDR hatten wir, die Mutter, die Schwester und ich, vier Jahre gemeinsam unter einem Dach verbracht. In Hamburg zwei, in Berlin zwei. Fast zwei Jahre davon war der Vater nicht bei uns gewesen und dann ganz ausgezogen. Eine eindeutigere Sprache als die der Zahlen gibt es nicht.
Mission erfüllt. Die Familie zerschlagen. Eltern unschädlich gemacht. Ich lese: »Im Ergebnis der bisherigen politischen-operativen Bearbeitung des OV kann eingeschätzt werden, daß auf der Grundlage der vom Stellvertreter des Ministers, Genossen Oberleutnant Mittig, bestätigten Bearbeitungskonzeption, die feindlichen Aktivitäten der Krista Maria Schädlich und des Hans-Joachim Schädlich sowie ihre Wirkungsmöglichkeiten und ihre Wirksamkeit gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung in der DDR weitgehend eingeschränkt und unterbunden wurden.« Und weiter: »[…] im Zusammenwirken mit anderen Diensteinheiten, anderen Sicherheitsorganen sowie mit staatlichen Einrichtungen und gesellschaftlichen Organisationen«, und dank des Onkels: »im Prozess der gezielten Steuerung des IM«.
So steht es im Abschlussbericht von 1984. Trotzdem, wir standen weiter unter Beobachtung, »unter operativer Kontrolle«, wie es im Stasi-Jargon hieß. Der Onkel war es, der das am besten konnte.
10
Es ist mir ein Rätsel, wie wir trotz der ständigen Unruhe, dem Gefühl der Bedrohtheit, der Unbehütetheit, die sich daraus ergab und unter der die Schwester, weil sie noch klein war, besonders gelitten haben muss, trotz des Gefühlschaos und der Ungewissheit, trotz der Anstrengung durchgehalten haben, um weiterzumachen. Die Mutter schrieb an die beste Freundin: »Zu Susannes 19. Geburtstag war ich mal kurz in Berlin. Ihre Wohnung ist sehr schön geworden, sie hat einen mir sehr angenehmen Freund und war selber so lieb und anhänglich. Jetzt nach dem Abitur geht die Suche nach einer Lehrstelle los. Sie möchte entschieden Kostümbildnerin werden, und dazu braucht man erst einmal eine Theaterschneiderlehre. Ich habe mit Jochen gesprochen, und ihm gesagt, daß jetzt alle Beziehungen der Eltern eingesetzt werden müssen.« Wieder im Dezember.
Im Januar fing ich an. Ich nahm mir das Telefonbuch, suchte alle Schneidereien heraus. Vertröstungen, keine Zusagen. Das erzählte ich auch dem Onkel. Er nahm Anteil, er machte mir Mut. Erfolg schließlich doch über die Bekannte einer Bekannten der Familie. Anfang März begann ich eine Hospitanz am Düsseldorfer Schauspielhaus, am Kinder- und Jugendtheater. Die Mutter schrieb der besten Freundin: »Ob sich für sie beruflich daraus etwas entwickelt, ist noch ungewiß, aber eine Chance ist es schon, und hier haben es die jungen Leute schon schwer. Die
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