Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
Beine hatte und mit zwei Kettensägen zu bassigen Klängen aus einer Boombox jonglierte. Ganz zu schweigen von all den Wahrsagern, Tätowierern, Malern, Juwelieren, die an Tischen für ein paar Dollar ihren Lebensunterhalt verdienten.
Ich lief gen Norden in Richtung Santa Monica, bis zum Pier mit dem berühmtesten Karussell der Welt. Oder in Richtung Süden bis Marina del Rey, zum kleinen Yachthafen. Es waren viele Wege zu Fuß, aber auch viele mit dem Auto zusammen mit dem Freund. Immer gemächlich. Los Angeles ist keine schnelle Stadt. Nicht am Tage und auch nicht in der Nacht. Auf einem Geflecht von zuweilen siebenspurigen Autobahnen fuhren wir, auf die Hügel ringsum, um zu sehen, wie sich diese Wüstenstadt allmählich abends in ein überdimensionales Lichtermeer verwandelte. Von oben merkte man, wie klein man war. Oder wir fuhren in die Tiefen, nach Downtown, zwischen Türmen aus Glas und Stahl neben historischen Art-déco-Gebäuden, nachts Geisterstadt, tags geschäftiges Bürotreiben. Ich habe mich nie dort gefürchtet, obgleich es stets hieß, geh da nicht hin, wo sich die Obdachlosen zur Nachtruhe legen, im Winter um wärmende Mülltonnenöfen, im Sommer in umgeklappte Pappkartons, und die Stadtreinigung sie am Morgen mit Wasser von den Bürgersteigen spritzte.
In Los Angeles stand das Hamsterrad, in dem ich mich seit 1977 fast ohne Unterlass gedreht hatte, still. Das war ein Zeichen. Ich war auf dem richtigen Weg. Ich musste nur Geduld haben. Auch, dass sich das Gefühl, fremd zu sein, nicht einstellte, gehörte dazu, weil ich Menschen kannte und kennenlernte, die meine Sprache sprachen, die es, wenn auch aus anderen Gründen, aber doch wie mich, hierhergespült hatte. Ich fühlte mich geborgen inmitten der Andersheit. Das stärkte, das gab Mut. Mut machte auch, wenn mich unverhofft die Vergangenheit versuchte einzuholen und ich mich nicht darüber erschrak. Wie im Februar 1988. Ich schaltete den Fernseher ein und traute meinen Augen nicht. Der Freund Gerulf Pannach in der Sendung Richard Brown’s Screening Room, als Schauspieler, nicht als Sänger. Er sprach über den Film Singing the Blues in Red von Ken Loach, der gerade in New York angelaufen war, ausgerechnet, und in dem Gerulf die Hauptrolle spielte, einen oppositionellen Liedermacher, der Auftrittverbot in der DDR hat und aus dem Gefängnis in den Westen entlassen wird. In der DDR verfolgt und verhaftet, im Westen der Vorzeigeoppositionelle, fühlt er sich verloren und schwankt zwischen Wut und dem Gefühl von Verlust. Ich wusste das alles, es war Gerulfs Geschichte, er hatte sie mir erzählt, in der Pannierstraße in Berlin-Neukölln, mit seiner verrauchten Stimme, und jetzt spielte sie in New York. In dem Moment war ich nicht mehr fremd am Ort.
Das Gefühl, fremd zu sein, stellte sich auch darum nicht ein, weil fast jeder Fremder war, weil ich eine von vielen war. Weil nicht nur eine Sprache gesprochen wurde, weil fremd sein an den Ort gehörte wie die Palmen, die Sonne, das Meer. Eine Deutsche in Amerika zu sein war einfacher, als eine Deutsche aus Ostdeutschland in Westdeutschland gewesen zu sein. Einfacher, weil ich endlich als Fremde erkennbar war.
Das Geld ging zur Neige, ich brauchte eine Arbeit. Leicht war es nicht. Ohne Greencard, mit holprigem Englisch. Die einzigen, die das nicht störte, waren selber Emigranten, Leute, die irgendwann genauso angefangen hatten wie man selber. Bei mir waren diese Leute Deutsche. Sie besaßen ein Restaurant. Als ich es das erste Mal betrat, um mich vorzustellen, wusste ich schon, es würde ein Abstecher sein. Dunkle Holzvertäfelung an den Wänden und der Decke, karierte Vorhänge an den kleinen Fenstern, die kaum Licht durchließen. Karierte Decken auf schweren Tischen, abgetrennte Sitzecken, aus denen ich jeden Moment von den Gästen Volkslieder erwartete. Die klangen im Hintergrund aus Lautsprechern. Rustikale Küche, selbstverständlich, und Bier. Das war schwer zu ertragen, aber es war auszuhalten. Auch der schwarze Rock und die gestärkte weiße Bluse. Ich brauchte Geld, und eine andere Arbeit hatte ich nicht. Da war ich also, servierte Sauerbraten und Sauerkraut und Klöße, alle Kellnerinnen waren Deutsche, die Gäste nicht selten Juden. Die Gerichte bereitete ein Mexikaner zu. Ein anderer wusch die Teller. Die Tür zur Küche sollte möglichst geschlossen bleiben, die Gäste sollten ungestört sein, dachte ich. Dass es andere Gründe hatte, hörte ich im Vorbeigehen, als ich eines Abends aus
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