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Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Titel: Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Schädlich
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schwarzen Locken, der sanfte. Ich weiß gar nicht mehr, wie und wo wir ihn kennenlernten. Es muss gewesen sein, nachdem ich schon zwei Wochen vor dem Fernseher gesessen hatte, wann immer wir zu Hause waren, und über die Bilder die Sprache lernte. Zumindest so viel, dass ich ihm etwas entgegnete, als er mich ansprach, und nicht verstummte, wie sonst zuvor. Er wich nicht von unserer Seite, er wurde auch nie zudringlich. Lois war einfach plötzlich da. Er rief an, er kam vorbei. Er saß auf der Treppe vor dem Haus. Er führte uns. Mit Lois wurde die Stadt kleiner, leiser, leerer, langsamer. Durch ihn verlor sich das Gefühl, die Stadt laufe davon. Plötzlich neigte sie sich mir zu, doch ich merkte, dass ich mich bereits von ihr abwandte. Wohin, das wusste ich noch nicht. Ich wusste nur, auf keinen Fall zurück. Dahin war die Freundin auf und davon.
    Für mich unbegreiflich, dass jemand nicht bleiben wollte. Vielleicht war es der Freundin ebenso unbegreiflich, dass ich blieb. Aber wie sollte ich denn auch nicht. Ich brauchte nur an all die zu denken, die noch in der DDR waren. Der Bruder, die Cousins, Tanten, Onkel. Die ehemaligen Freunde. Schon für sie würde ich bleiben. Und ich brauchte nur an das zu denken, was wir in den letzten Jahren erlebt hatten, was es gekostet hatte, den Schritt bis nach Amerika zu tun. Welches Glück ich hatte, dass ich hier stand, die, die zehn Jahre zuvor das rote Pionierhalstuch hatte umbinden müssen, die zehn Jahre zuvor nicht einmal im Traum daran gedacht hatte, den Ozean zu überqueren, als wir auf dem Hügel auf Hiddensee, den Blick Richtung Dänemark gerichtet, sogar die Ostsee für unüberwindbar gehalten hatten.
    Darüber hätte ich damals gerne gesprochen. Auch mit Lois. Doch die Wörter fehlten mir noch. Ihn konnte ich Dinge fragen, von denen er etwas verstand, über sein Land, er erklärte. Vor allem Menschen, mit denen er mich bekannt machte. Trotzdem wurden seine Freunde nicht meine Freunde. Und weil es so war, und weil die Freundin fort war, und weil ich mich noch lieber und besser in meiner Sprache ausdrückte, rief ich den Freund an, den ich aus Berlin kannte, der mir die Wohnung in New York vermittelt hatte, der jetzt in Los Angeles lebte. Das Bedürfnis nach Vertrautem trieb mich weg. Ein Mensch und die Sprache würden reichen, das wusste ich, damit ich bestehen würde, Halt hätte in der Fremde, damit ich bliebe. Und jetzt wusste ich auch, wo. Der Abschied fiel nur schwer von Lois. Wäre er nicht gewesen, vielleicht hätte ich auch den Rückweg angetreten, aber er hatte die unbekannten Wege begehbar gemacht. Das verdankte ich ihm und sagte es. Er sagte: It’s alright. Er verschwand, wie er gekommen war, aus der Stadt in die Stadt. Als wir uns Lebewohl sagten, kein Wort davon, dass wir uns wiedersehen würden. Er war dagewesen und dann fort. Auch das war New York. Vergessen werde ich ihn nie.
    Ich flog nach Los Angeles, in Richtung Palmen, Sonne und Meer. Noch mehr Distanz zu dem, was gewesen war. Noch mehr aus den Augen, aus dem Sinn. Das war wichtig für einen Neuanfang in dem grünen Haus des Freundes, nur ein paar Straßen vom Strand entfernt, in Venice. Und weil ich noch Geld hatte, konnte ich mir Zeit lassen, bis ich wieder das Leben meistern musste. Ich gönnte mir den Luxus, mir einfach nur alles anzusehen und zu gehen. Zum Beispiel über die Brücken, die über Kanäle führten, gesäumt von einstöckigen Häusern in Weiß. Venedig im Miniaturformat an der Westküste Kaliforniens. Besonders rührte mich die Geschichte, die sich die Leute erzählen, dass nämlich Abbot Kinney, ein Zigarettenmillionär, dieses Stückchen Erde um 1900 seiner Herzensdame gekauft hatte, um ihr, einer Italienerin, ein Stück Heimat zu schenken, indem er Venedig in Kalifornien nachbaute. Die Schöne soll in Italien geblieben sein. Venice entstand trotzdem.
    Oder ich lief an der Strandpromenade, vorbei an Buden, an Restaurants, vor allem an Menschen, die mir skurriler nicht erscheinen konnten. Ein Schwarzer mit seeblauen Augen, ganz in weiß gekleidet, mit einem weißen Turban auf dem Kopf, der auf Skatern, eine E-Gitarre spielend und singend, nicht nur mich in Staunen versetzte. Wer schon in Venice war, der kennt ihn. Oder die Muskelmänner, die in der Hitze des Tages in Metallkäfigen mit Vorrichtungen, die einzig dem Kraftsport dienten, vor den Augen der Vorüberschlendernden ihre Körper stählten und aussehen wollten wie Arnold Schwarzenegger. Oder der Mann, der Stümpfe als

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