Immorality Engine
nachzudenken.
Vielleicht war sie Newbury auch ein wenig zu barsch angegangen. Vermutlich war
das ein Ausdruck ihrer Frustration über ihn gewesen, da er offenbar nicht
einsehen wollte, was er sich selbst antat.
Veronica betrachtete ihn. Er beobachtete umgekehrt auch sie, sein
Gesicht lag halb im Schatten. Als er ihren Blick bemerkte, lächelte er, und
einen Moment lang glaubte sie beinahe, es sei der alte Newbury, der da vor ihr
saÃ, der Mann aus der Zeit vor den Opiumhöhlen und der ständigen Abwesenheit,
vor den Ahnungen und den mumifizierten Händen. Mehr als alles andere wollte sie
diesen Newbury zurückhaben. Sie vermisste ihn sehr.
Schweigend saÃen sie da und betrachteten einander im Zwielicht. »Ich
vermisse Sie auch«, sagte er leise, und sie fragte sich, ob er irgendwie ihre Gedanken gelesen hatte. Sie hatte Angst, ihm weiter
in die Augen zu sehen, und blickte aus dem Fenster. Angst, die wahre Bedeutung
ihres Gesprächs anzuerkennen.
Nicht jetzt, Maurice. Fast hoffte sie, er könne wirklich ihre Gedanken lesen. Noch nicht. Sie wollte
dieses Gespräch nicht jetzt in der Kabine einer schmutzigen,
mit Dampf betriebenen Droschke führen.
Nicht mit diesem Newbury, mit diesem von Drogen verdorbenen Schatten des
Mannes, den sie liebte. Dazu war immer noch Zeit, wenn es ihm wieder
besser ging.
Unwillkürlich ballte sie die Hände zu Fäusten. Schon so lange sehnte
sie sich danach, ein klärendes Gespräch über ihre Heimlichkeiten und die Queen
zu führen, über die unausgesprochene Zuneigung zwischen ihnen. Jetzt schien der
Augenblick gekommen, und Newbury hatte den ersten Schritt getan, um das
Gespräch zu beginnen, doch sie empfand nichts als Frustration. In diesem Moment
war sie nicht bereit, und sie wusste, dass er es auch nicht war.
Als sie endlich seinen Blick erwiderte, hatte er seine Position
verändert und den Kopf an die Lehne gelegt. Er hatte die Augen geschlossen und
atmete flach. Bald würden sie sein Haus in der Cleveland Avenue in Chelsea
erreichen. Sie seufzte erleichtert. Der Augenblick war vorbei. Sie beobachtete
Newbury, der sich unruhig regte, während der Schlaf ihn übermannen wollte, und
fragte sich, was er über Bainbridges kleine Einmischung sagen würde.
»Was, im Namen der Hölle, bildet Charles sich eigentlich ein?«
Newbury stürmte im Salon hin und her und gestikulierte aufgebracht
angesichts der ordentlichen Papierstapel und der sauberen Flächen, wo vorher
schmutzige Teller und Besteck aufgetürmt gewesen waren. »Ich meine, erââ¦âer hat
hier aufgeräumt !« Wie zum Trotz fegte er einen Stapel
neuerer Zeitungen vom Kaffeetisch auf den Teppichboden, wo sie zerknittert und
verstreut liegen blieben.
Veronica verkniff sich ein Lachen.
Sie hatte Charles gewarnt, dass Newbury so reagieren würde. Man konnte sicher
nicht sagen, dass er sich in seinem Durcheinander wohlfühlte. Allerdings hatte
er ein System, um die Dinge wiederzufinden, auch wenn es bizarr und schlecht
organisiert wirkte, und jeder, der das System zerstörte, bekam seine schlechte
Laune zu spüren.
Dennoch hatte sie Charles zugestimmt, dass dies angesichts der
Begleitumstände die einzige Möglichkeit war.
»Wer ist dieser Mann überhaupt? Ist er Charlesâ verdammter Spion?«
Er funkelte sie vorwurfsvoll an. »Sie wussten doch davon, oder?«
Veronica lehnte sich an einen Sessel und sah ihn ernst an.
»Wirklich, Sir Maurice, müssen Sie jetzt so über ihn reden? Sir Charles
versicherte mir, dass Scarbright so zuverlässig ist, wie man es sich nur
wünschen kann. Der Palast hat ihn durchleuchtet, und er kennt Ihre Arbeit. Und
Ihreâ⦠Ihre derzeitige Situation. Er ist hier, um Ihnen zu helfen.« Sie
seufzte. »AuÃerdem ist das nur eine vorübergehende
MaÃnahme, bis Sie Mrs. Bradshaw überzeugt haben, zu Ihnen
zurückzukehren.«
Newbury bückte sich und sammelte den Erdrutsch der Zeitungen wieder
ein, dabei legte er die Stirn in tiefe Falten. »Sie kehrt nicht zurück,
Veronica, das ist völlig sicher.«
Sie sprang ihm bei und half ihm. Als sie niederkniete, sagte sie:
»Nun ja, wäre es nicht gut, Sir Charlesâ Geste in dem Geiste anzunehmen, in dem
er sie gemacht hat? Wir wollen uns doch den Tatsachen stellen, Maurice. Sie sind ziemlich erledigt.« Sie hielt
inne und fragte sich, ob sie zu weit gegangen war. Doch Newbury hörte
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