Immorality Engine
herausfinden, was dieser Narr von Graves im Schilde führt und ob er
etwas mit den Doppelgängern zu tun hat.«
Newbury nickte. »In Ordnung, Charles. Beeilen Sie sich, und grüÃen
Sie Ihre Majestät von mir.«
Bainbridge drehte sich um und eilte dem jungen Wachtmeister
hinterher. Er vergaà sogar, den Stock zu benutzen, als er Hals über Kopf zur
wartenden Droschke rannte.
Veronica sah ihm nach und wandte sich an Newbury, der nachdenklich
die beiden Toten betrachtete. »Sie wollen es unbedingt herausfinden, nicht
wahr?«
»Was denn?« Er hob nicht den Blick.
»Wie er es getan hat. Wie er sich selbst kopieren konnte.«
Newbury kicherte, ohne die beiden Leichen aus den Augen zu lassen.
»In diesem Moment, Miss Hobbes, ist mir nichts auf der Welt wichtiger als das.«
Veronica lächelte. Darauf hatte sie
gehofft. All die Toten, die Warterei in der Leichenhalle, die
Auseinandersetzungen, die Wortwechsel. All das war es wert gewesen, um so weit
zu kommen. Sie beobachtete ihn, während er vorsichtig nacheinander die Tücher
anhob und die Leichen wieder bedeckte.
Newbury â ihr Newbury â war
wieder da.
12
Amelia wachte auf und wusste, dass sie im Sterben lag.
Sie fühlte sich, als schwebte sie,
als wäre sie von tiefster, tintenschwarzer Dunkelheit umgeben. Ihr
Körper war taub und wollte sich nicht bewegen. Alles war still, totenstill.
Nur zögernd setzten die Empfindungen wieder ein. Ihr Kopf pochte,
das Herz hämmerte in der Brust. Sie rang keuchend um Atem und sog die Luft tief
in die Lungen. Was war das? Ein sandiger, metallischer Geschmack im Mund.
Schmeckte so die nackte Angst? War es Blut?
Ja, Blut. Anscheinend hatte sie sich auf die Zunge gebissen.
Amelia bemühte sich, ruhiger zu atmen. Sie lag auf dem Rücken. Unter
sich spürte sie die weiche Matratze und das Bettzeug. Sie wollte darin
versinken und sich einhüllen wie in einen Kokon, ganz darin verschwinden und in
der Bewusstlosigkeit untergehen. Sie sehnte sich nach einem Ort, an dem sie
nicht mehr über die Dinge nachdenken musste, die sie gesehen hatte, wo sie vor
der Welt und ihren Schrecken sicher war, vor den Gedanken an den eigenen
drohenden Tod und an die Tatsache, wie vergeblich es war, dagegen anzukämpfen.
Nach und nach kam sie weiter zu sich, und die Welt nahm Gestalt an.
Es war, als tauchte sie aus einem Wasserbecken auf. Zuerst vernahm sie nur gedämpfte und zusammenhanglose Geräusche, aus
denen sich Stückchen um Stückchen etwas Verständliches herausschälte.
Jemand hielt ihre Hand und sprach
mit ihr. Anfangs konnte sie die Worte nicht verstehen, sondern hörte nur
eine leise, monotone Stimme, die unablässig redete.
Als sie die Augenlider aufschlagen wollte, hatte sie das Gefühl, sie
seien mit flüssigem Gummi verklebt. Eine Flut abrupt wechselnder Bilder erfüllte
ihren Geist. Es waren beängstigende, verwirrende Bilder von Feuer und Rauch,
von der Welt, die sich drehte, wirbelte, tanzte. Ein unablässiges Rotieren,
immer und immer wieder. Auf die Schmerzen folgten Schreie, darauf der
Schwindel. Sie dachte, so würden die meisten Menschen die Hölle beschreiben.
Amelia wusste, dass sie ihren eigenen Tod gesehen hatte. Die Wände
hatten sich nach innen zu ihr gewölbt, das Mauerwerk war mit ohrenbetäubendem
Lärm explodiert, die Steine waren knallend geborsten. Sie hatte ringsherum das
Ende der Welt erlebt und nicht entkommen können.
Dann das Schweigen. Nichts als tiefe, unendliche Stille und das
glatte Porzellangesicht von Mr. Calverton, der sich über sie beugte, bis die
unsteten blauen Augen drohend dicht über ihrem Gesicht schwebten.
Sie öffnete den Mund, um zu schreien, würgte aber von dem Blut, das
sich im Rachen gesammelt hatte. Sie wollte sich aufrichten, war aber wie
gelähmt. Keuchend kämpfte sie, dann spürte sie kräftige Hände auf den
Schultern, die sie beruhigten und ihr Sicherheit gaben.
Erst dann erkannte sie, dass die Stimme, die sie hörte, Dr. Fabian
gehörte, und begriff nach und nach, was er sagte. »Atmen Sie, Amelia! Tief
durchatmen!« Die Sorge in seiner Stimme war unverkennbar. »So ist es gut.« Er
tätschelte ihre Hand. »Ja, jetzt kommen Sie wieder zu sich.«
Blinzelnd öffnete sie die Augen und sah sich panisch in dem Zimmer
um. Mr. Calverton war nirgends zu entdecken, und die Wände wölbten sich nicht
nach innen. Es gab
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