Immorality Engine
keineswegs, Sandford. Gibt es sonst noch etwas?«
»Nein, Sir«, erwiderte der ältliche Butler. »Ich fürchte, mehr kann
ich nicht sagen.«
»Nun gut.« Bainbridge zog den Ãbermantel aus und gab ihn dem Diener.
»Könnten Sie mich zu ihr führen?«
Sandford lächelte. »Gewiss. Sie wartet schon.«
Bainbridge seufzte, behielt aber
seine Gedanken für sich. Sie wartet immer, dachte er. Wie eine Spinne mitten in einem
riesigen, undurchschaubaren Netz.
Er folgte Sandford hinter die Treppe. AnschlieÃend wanderten sie
durch einen Flur, dessen Wände mit dräuenden Porträts und biblischen Szenen
geschmückt waren. In einer Nische öffnete Sandford schlieÃlich eine verborgene
Tür und geleitete Bainbridge durch ein Labyrinth von Gängen, über die man
anscheinend zahllose unbekannte, geheimnisvolle Räume im Palast erreichen
konnte. Immer tiefer ging es in das riesige Haus hinein, bis Sandford endlich
vor einer weiteren unauffälligen Tür anhielt und laut anklopfte.
Eine Antwort gab es nicht. Der
Diener wartete noch einen Moment, dann öffnete er, hielt Bainbridge die Tür auf
und winkte den Beamten herein.
Ein ungutes Gefühl beschlich Bainbridge, als er den Audienzsaal
betrat.
»Sie haben sich viel Zeit gelassen, Sir Charles.« Die schrille,
körperlose Stimme der Queen hallte durch den düsteren Raum. Wie brachte sie das
zuwege? Wie konnte sie ihn in dem ewigen Zwielicht, in dem sie lebte, erkennen?
Er wusste nicht, ob der Mangel an Licht in ihrer gesundheitlichen Situation
begründet lag oder ob es eher damit zu tun
hatte, dass sie ihr Geheimnis hüten wollte: der ewige Mythos der Queen,
die rätselhafte Herrscherin. Diese Aura nährte sie, seit Dr. Fabian den
lebenserhaltenden Stuhl für sie eingerichtet hatte. In dieser hinfälligen
Verfassung, so hatte sie es selbst begründet, könne sie sich nicht in der
Ãffentlichkeit blicken lassen. Seither spielte sie lieber die unergründliche Monarchin, die allmächtige Herrscherin im
Herzen des britischen Empire, die allgegenwärtige Queen.
Eines musste Bainbridge ihr lassen: Sie glaubte auch selbst daran.
Er fragte sich, ob sie das Licht überhaupt nur einschaltete, wenn sie Besuch
empfing. Wahrscheinlich würde er es nie
erfahren. Ohne zu wissen, in welche Richtung er sich wenden musste,
antwortete er aufs Geratewohl in die Finsternis hinein. »Ich bitte um
Verzeihung, Euer Majestät. Ich hatte mit Newbury zusammen in der Leichenhalle
zu tun.«
Sie kicherte schmatzend und keuchend. »Ah, Newbury. Haben Sie es
also geschafft, seinen Kadaver aus den Opiumhöhlen zu zerren?«
Bainbridge schluckte. Also wusste sie Bescheid. Dabei hatte er
gehofft, er könne es ihr vorenthalten. »Jaâ⦠nun jaâ⦠ich brauchte seine Hilfe
bei einem besonders heiklen Fall.«
Wieder lachte Victoria. »Ja, wir wissen über Ihren Fall Bescheid,
Sir Charles. Zwei identische Leichen und ein Toter, der Verbrechen begeht. Kein
Wunder, dass Sie Newburys Hilfe brauchten.«
Bainbridge ging in die Richtung,
aus der die Stimme kam, war aber immer noch nicht sicher, wo genau er sie in der Dunkelheit finden konnte.
Victoria, die ihn natürlich beobachtet hatte, schwieg auf einmal. Dann flammte
im Hintergrund ein Licht auf wie ein
Leuchtturm und durchbrach die Finsternis.
Sie hatte die Blende einer Paraffinlaterne geöffnet.
Victoria saà im warmen Schein, in den die Laterne sie tauchte.
Bainbridge kam es so vor, als steckte sie in einer Art Blase und schwebte auf
einem unergründlichen schwarzen Meer. Doch da war noch jemand anders. Ihr
gegenüber saà ein Mensch auf einem Holzstuhl.
»Kommen Sie her, Sir Charles.«
Er gehorchte, und nun wurde ihm die Situation klar. Der Mann, der
gegenüber der Königin auf dem Stuhl saÃ, war in sich zusammengesunken und tot.
Aus der Brust ragte der Schaft eines Stahlbolzens hervor. Der Kopf hing
unnatürlich zur Seite, der Unterkiefer war erschlafft. Er war etwa dreiÃig Jahre alt, hatte dunkle Haare und trug einen
eleganten marineblauen Anzug. Die Haut war gebräunt und wirkte im
orangefarbenen Schein der Laterne völlig gesund.
Mit einem bösen Grinsen wandte sie sich an Bainbridge. Im
Hintergrund arbeitete das Lebenserhaltungssystem.
»Was ist geschehen, Euer Majestät?« Er stützte sich schwer auf den
Stock.
»Dieser Mann, dieser Junge, ist uneingeladen in
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