Immorality Engine
Zeit.
Newbury zog ein Taschentuch aus der Brusttasche und wischte das Blut
aus dem Gesicht des Toten. »Da. Sehen Sie es jetzt?«
Veronica betrachtete es genauer.
Die Miene sprach von reinem Entsetzen, der Mund war zu einem angstvollen
Schrei geöffnet. Unter dem Blut und den vielen Schnittwunden war eines aber
völlig klar: Der Tote, den Newbury angehoben hatte, war niemand anders als der
rätselhafte Mr. Edwin Sykes.
11
»Das ist ja nicht zu
fassen! Sie sind identisch!«, rief Bainbridge. Die ganze Angelegenheit
verwirrte ihn offenbar sehr.
»Hm«, machte Newbury, ohne den Blick zu heben.
Zu Veronicas groÃem Unbehagen waren sie in die Leichenhalle der
Polizei zurückgekehrt. Zusammen mit der Polizeidroschke, die den Toten
beförderte, waren sie von der Cromer Street aus quer durch die Stadt gefahren.
Es war eine langwierige Reise im Tempo eines Trauermarschs gewesen. Jetzt
befand sie sich, zum zweiten Mal binnen zwei Tagen, schon wieder in dieser
schrecklichen Einrichtung und bereute es, sich überhaupt auf die Sache
eingelassen zu haben.
Der Tote zählte zu den schrecklichsten Dingen, die sie je gesehen
hatte, vergleichbar höchstens mit dem verstümmelten jungen Reporter James
Purefoy, den sie und Newbury entdeckt hatten, oder â vielleicht noch
schlimmer â mit den verschrumpelten, blutleeren Körpern der ehemaligen
Dorfbewohner von Huntingdon Manor früher in demselben Jahr. Die schreckliche
Gewalt des Angriffs und die völlige Missachtung des Lebens verstörten sie sehr.
Wenn man die Menschen so sah, waren sie nicht mehr als Haufen von Fleisch und Knochen,
und das verabscheute sie. Wäre Newbury nicht gewesen, dann wäre sie an diesem
Morgen vielleicht in einem ganz ähnlichen Zustand aufgefunden worden. So oder
so, sie wollte in der Gegenwart der Toten nur so viel Zeit verbringen, wie es
unbedingt nötig war.
Eine Stunde befanden sie sich jetzt schon in der Leichenhalle. Der
Polizeiarzt hatte nur zehn Minuten gebraucht, um eine erste Untersuchung
durchzuführen und den Toten auf der Marmorplatte
zurechtzulegen. Die restliche Zeit hatte Newbury die Leiche sehr
gründlich untersucht. Nicht nur das, er hatte zusätzlich den Leichnam, den sie
schon bei ihrem ersten Besuch gesehen hatten, herbringen lassen. Er lag jetzt
neben dem Neuzugang entblöÃt auf einem zweiten Steintisch.
Seit der Entdeckung der ersten Leiche in der Gosse waren mehrere
Tage vergangen. Die Haut wirkte jetzt krank und verletzt, als wäre sie voller
Blutergüsse. AuÃerdem roch der Tote. Ziemlich übel sogar. Veronica hielt sich
ein Taschentuch vor Nase und Mund, was einerseits den Geruch etwas abhielt und
andererseits ihre Grimasse vor den Männern verbarg.
Newbury verglich gerade die linke Hand des neuen Toten mit der des
Doppelgängers. Vorgebeugt und mit einem VergröÃerungsglas gewappnet umrundete
er die Marmorplatten.
Veronica lieà das Taschentuch sinken. »Könnten es nicht einfach
eineiige Zwillinge sein?«, gab sie zu bedenken. Sie hatte schon von solchen
Fällen gehört, wo auf einmal ein verloren geglaubter oder bislang unbekannter
Verwandter aufgetaucht war und aus der Ãhnlichkeit mit dem erfolgreicheren Angehörigen Kapital geschlagen hatte. In manchen
Fällen hatten solche Unholde sogar versucht, die Identität des Bruders oder der
Schwester anzunehmen und sie ermordet, um sie aus dem Weg zu räumen.
Bainbridge schüttelte jedoch den
Kopf. »Das glaube ich nicht, Miss
Hobbes. Wir haben die Geburtsurkunden durchgesehen. Sykes war ein Einzelkind. Bei der Geburt gab es Komplikationen, und die Mutter ist während der Entbindung gestorben.
Hätte es sich um Zwillinge gehandelt, dann hätte der Arzt im Krankenhaus einen
entsprechenden Vermerk gemacht.«
Newbury trat von der Steinplatte
zurück und sah sie abwesend an. »Dahinter steckt weitaus mehr«, erklärte er.
»Hier sind finstere Kräfte am Werk.«
»Finstere Kräfte! Was geben Sie
uns da für Rätsel auf, Newbury?«, fragte
Bainbridge. Der Art und Weise, wie er mit dem Gehstock auf die Fliesen tippte,
konnte Veronica entnehmen, dass er allmählich die Geduld verlor. Genau wie sie
stand er schon seit fast einer Stunde untätig herum. Jetzt wollte er endlich
Antworten hören.
Veronica dachte zuerst, Newbury
werde die Frage ignorieren, doch dann verschränkte er die Arme vor der Brust
und lächelte. »Eine
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