Immorality Engine
auf das nächste zu springen, erfüllte sie mit
Angst.
In der vergangenen Stunde hatten
sie das Haus von auÃen erkundet und keinen anderen Weg gefunden, dort
einzudringen, wenn man davon absah, zur Vordertür zu marschieren und sich
anzumelden. Der Balkon war anscheinend unbewacht, und die Schlösser der
Balkontüren waren, wie Newbury ihr versichert hatte, leicht zu knacken.
Veronica blickte wieder in den
Abgrund. Ihr Magen machte einen Bocksprung. Newbury war dagegen völlig
ungerührt, er schien es sogar zu genieÃen, wenn man den Eifer sah, mit dem er
die Entfernung zwischen den beiden Gebäuden abschätzte. Nicht, dass es über
ihre Fähigkeiten gegangen wäre. SchlieÃlich hatte sie, nicht zuletzt im Fall der Persischen Träne, immer und immer bewiesen,
was in ihr steckte. Damals hatte sie viel Zeit damit verbracht, auf den Dächern
von Paris umherzuspringen und den gestohlenen Edelstein zu finden. Dennoch, sie
arbeitete lieber, während sie mit beiden FüÃen fest auf dem Boden stand.
Wenigstens hatte es zu regnen aufgehört. Der Boden war noch nass,
den schlimmsten Güssen waren sie allerdings entgangen. Hoffentlich war der
Balkon nicht zu feucht, um wohlbehalten zu landen.
Allmählich setzte ihr auch die Kälte zu. Sie wandte sich an Newbury.
»Wir wollen es hinter uns bringen, Maurice.« Im Angesicht der Gefahr wählte sie
wieder die vertrauliche Anrede.
Der Agent nickte. »Ja, unbedingt.« Er richtete sich auf, nahm drei
oder vier Schritte Anlauf, rannte los und sprang mit rudernden Armen hinüber.
»Maurice!«, rief Veronica. Unwillkürlich legte sie sich beide Hände
auf den Mund. Ihr Herz geriet einen Moment ins Stolpern.
Dann war er drüben und landete mit einem Plumps auf dem Balkon. Er
rutschte auf den nassen Fliesen aus, verlor das Gleichgewicht und prallte mit
dem Hinterteil auf den Boden. Rasch stand er wieder auf und hielt sich am
Geländer fest, das den ganzen Balkon umgab, während er sich abklopfte. Betreten
blickte er zu ihr hinauf. »Kommen Sie auch?«, rief er.
Veronica verdrehte die Augen.
Immerhin war sie drauf und dran, sich ein wirklich gutes blaues Kleid zu ruinieren. Sie bückte sich, streifte die
Schuhe ab und warf sie zu Newbury hinüber, der verblüfft war und gerade noch
rechtzeitig die Arme heben konnte, um zu verhindern, dass sie gegen
seinen Oberkörper prallten. Dann raffte sie die Röcke hoch und folgte Newburys
Beispiel, indem sie vier oder fünf Schritte rückwärtsging, bevor sie loslief
und von der Steinkante des Dachs absprang. In einem eleganten Bogen segelte sie
durch die Luft und landete geschickt ein paar Schritte vor Newbury. Er streckte
die Arme aus, doch sie blieb aus eigener Kraft im Gleichgewicht. Ihr Herz
wummerte in der Brust, aber sie war beflügelt. Sie blickte zum Gebäude hoch,
auf dem sie eben noch gestanden hatte. Gott, hatte sie das wirklich gerade
getan?
Newbury reichte ihr die Schuhe. »Hoffen wir, dass wir die Tür
aufbekommen, sonst sitzen wir hier fest«, sagte er grinsend.
Veronica zog die Schuhe wieder an,
während Newbury in seinen Taschen
herumsuchte und schlieÃlich die Dietriche hervorzog. Es handelte sich um ein
Bündel dünner Metallstäbe, die in schwarzen Samt gewickelt waren. Er kniete
nieder, betrachtete das Schloss der Balkontür und strich mit den Fingern über
die Werkzeuge, während er eines mit der richtigen GröÃe und Form aussuchte.
»Haben Sie es eigentlich schonââ¦Â«, setzte Veronica an.
»Sch-scht!«, machte er.
Sie hörte nicht auf ihn, sondern streckte die Hand aus und probierte
den Türgriff. Er lieà sich leicht herumdrehen, und die Tür ging knarrend auf.
»â¦âmit dem Türgriff versucht?«
Newbury stand lachend auf. »Oh, sehr gut, Miss Hobbes.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Warum sollte man eine Balkontür im
ersten Stock abschlieÃen? Das ist eigentlich sehr logisch.«
Newbury beantwortete die rhetorische Frage. »Es sei denn, man
rechnet damit, dass jemand vom Nachbarhaus
herüberspringt und eindringt«, stichelte er.
Sie mussten beide lächeln. Veronica
spähte durch den Türspalt.
Der Raum hinter der Balkontür lag in völliger Dunkelheit. Sie
signalisierte Newbury, den Mund zu halten,
und schob die Tür vorsichtig weiter auf. Als die Scharniere laut
quietschten, zuckte sie zusammen, dann schlich sie
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