Immorality Engine
gekratzt, und sie hatte ihn nicht mehr bändigen können.
Das Fieber hatte alle Arten düsterer Halluzinationen mit sich
gebracht. Sie hatte sich in eine Ecke der Zelle zurückgezogen, während er sich
am Boden gewunden, mit Fäusten um sich geschlagen und gegen die Dämonen
angekämpft hatte, die nur er sehen konnte. SchlieÃlich hatte er seltsame Symbole
in den Staub auf dem Boden gekratzt und magische Worte in Sprachen gesprochen,
die sie nicht kannte. Dann hatte er wieder geschrien und sich während des
Anfalls den Bauch gehalten, wie Amelia es manchmal in ihrer Kindheit getan
hatte. Die Erinnerungen hatten sie überflutet und überwältigt. Irgendwann hatte
sie ein abgebrochenes Stück Holz entdeckt und ihm zwischen die Zähne geschoben
und seinen Kopf gehalten, bis der Anfall abgeklungen war.
In seinen kurzen wachen Momenten hatte er um einen Tropfen Laudanum
gebeten, als hätte sie eine Flasche von dem Zeug dabei, die sie vor ihm versteckte. Er war wütend geworden, hatte sich reumütig
gezeigt, und dann hatte der nächste Anfall begonnen. Die Bauchmuskeln hatten
sich verkrampft, das Fieber hatte heià in ihm gebrannt, als jede Zelle seines
Körpers sich nach der süà riechenden Droge gesehnt hatte.
Hätte sie Laudanum gehabt, dann hätte sie es ihm gegeben, um das
Leiden und die Qualen zu lindern. Um Newbury
zurückzubekommen. Aber natürlich besaà sie keines und hatte die Anfälle
weiter ertragen müssen, hatte zusehen und zuhören und weinen müssen, als der
Opiumentzug ihn plagte.
Endlich, nach fünf, sechs oder sieben Stunden, sie konnte es in der
endlosen Nacht der Zelle nicht genau sagen, klang das Fieber ab, und Newbury
fiel auf dem Boden der Zelle in einen tiefen Schlaf.
Zuerst geriet Veronica in Panik und fürchtete, er sei gestorben. Sie
stürzte zu ihm, tastete den Puls und lauschte auf den flachen Atem. Doch er
hatte heldenhaft gekämpft und war geschwächt, aber er lebte noch.
Auch Veronica versuchte zu schlafen, stellte aber fest, dass sie
keine Ruhe fand. Ihre Gedanken rasten, denn sie machte sich um Newbury, Amelia
und natürlich auch um sich selbst groÃe Sorgen. AuÃerdem war unklar, was Graves
tun würde. War letztlich alles umsonst gewesen? Hatte Newbury das alles auf
sich genommen, nur um von der Bastion Society hingerichtet zu werden? Mussten
sie jetzt sterben? Sie war nicht sicher, ob sie allein stark genug war, um sie
beide in Sicherheit zu bringen, auch wenn sie im Notfall natürlich verbissen zu
kämpfen verstand.
SchlieÃlich fiel sie doch noch in einen unruhigen Schlaf. Als sie
erwachte, saà Newbury aufrecht auf der anderen Seite der Zelle und beobachtete
sie.
Er sah schrecklich aus. Die Augen lagen tief in den Höhlen, die
Haare waren von Schweià und Dreck verfilzt. Doch er lächelte sie an, und sie
wusste, dass er das Schlimmste überstanden hatte.
»Es tut mir leid«, sagte er leise. Sie spürte, wie ernst es ihm war.
Sie nickte wortlos.
»Wie spät ist es?«
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete sie der Wahrheit entsprechend.
»Irgendwann nach der Morgendämmerung, nehme ich an.« Sie kauerte an der
gegenüberliegenden Wand und hatte wieder die Knie bis unter das Kinn angezogen.
Ihr war kalt, sie war müde, und sie hatte Angst.
Die Antwort schien Newbury zu verwirren. »Sind wir wirklich schon so
lange hier drin?«
Sie nickte wieder. »Und die ganze Zeit ist Amelia im Grayling
Institute gefangen und schwebt in schrecklicher Gefahr.«
Frustriert drosch sie die Faust gegen die Wand.
»Es tut mir leid«, sagte er noch einmal. Viel mehr konnte er auch
nicht sagen. Es war nicht seine Schuld. Sie war dankbar, dass er ihr nicht mit Allgemeinplätzen kam und ihr versicherte, es werde
schon alles gut ausgehen. »Haben sie irgendwie verlauten lassen, was sie mit
uns vorhaben?«
»Nein«, antwortete Veronica. »Sie haben mir überhaupt nichts
erzählt. Aber ich habe die ganze Zeit über das nachgedacht, was Sie über Graves
und die Duplikate gesagt haben. Darüber, dass es der Wahrheit entsprach, als er
meinte, sie hätten nie gelebt.« Sie richtete sich auf und schlug die Beine
unter. Newbury hörte aufmerksam zu. Was er dachte, konnte sie nicht einmal
ahnen, und sie wusste nicht, ob er überhaupt klar genug war, um zu verstehen,
was sie sagte, aber sie musste es jemandem erzählen, musste es sich von
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