Immortalis
schriftlichen Erzählungen der Geschichte, handelt davon.» In der kurzen Zeit, die sie ihn kannte, hatte der Historiker die Gewohnheit entwickelt, sie auf die Folter zu spannen. Oft war das liebenswert. Aber nun wurde sie ungeduldig.
«Avicenna und die anderen Philosophen und Wissenschaftler», erklärte Boustany, «hatten geglaubt, das fehlende Mosaiksteinchen in ihrem Puzzle sei der Auslöser, der Katalysator, der die richtige Mischung der Grundmetalle zur Verwandlung bringen würde. Nach alter Tradition nahmen sie an, dieser Katalysator sei ein trockenes Pulver. Die Griechen hatten es als xerion bezeichnet, was ‹trocken› bedeutete. Daraus wurde das arabische Wort aliksir , das die Europäer später Elixier nannten. Und da die Wissenschaftler jener Epoche als Weise galten, und weil man glaubte, das Elixier komme aus der Erde, kannte man es bald als ‹Stein der Weisen›. Diese mythische Substanz hielt man für so wunderbar, dass die Alchemisten ihr bald auch noch andere Kräfte zuschrieben», fuhr Boustany fort. «Sie hielten es nicht nur für den Katalysator, der ihnen ungeahnte Reichtümer verschaffen würde, sondern nahmen auch an, dass es sämtliche Krankheiten würde heilen können. Und schließlich glaubten sie sogar, es würde ihnen zur Unsterblichkeit verhelfen. So verbreitete sich die Vorstellung von einem ‹Lebenselixier›, und die al-khimia wurde zur Suche nach nach Gold und dem ewigen Leben. In den Köpfen der Alchemisten war beides untrennbar miteinander verknüpft. Gold war unvergänglich; es alterte nicht. Manche Wissenschaftler fanden Mittel und Wege, es sich als Elixier einzuverleiben – zumeist in pulverisierter Form –, und als Anti-Aging-Arzneimittel war Gold irgendwann begehrter als wegen seiner zeitlosen Schönheit und seines Geldwertes.»
«Das habe ich schon einmal gehört», sagte Mia.
«Die Vorstellung von einem Lebenselixier», erklärte Boustany, «war eng mit der Theorie verknüpft, der Mensch altere durch den Verlust einer lebenswichtigen Substanz, die den Körper runzlig werden und zusammenschrumpfen ließ, bevor er schließlich zu funktionieren aufhörte. Die Taoisten nannten diese Substanz ching und beschrieben sie als Atem des Lebens. Aristoteles, Avicenna und unzählige andere nach ihnen glaubten ebenfalls, der Körper verliere im Alter seine ‹angeborenen Säfte›. Der Wiener Arzt Eugen Steinach predigte den Coitus reservatus zur Verjüngung seiner Patienten – eine Methode zur Erhaltung vitaler Flüssigkeiten, die wir heute als Vasektomie bezeichnen. Ein anderer Arzt, Sergej Woronoff, nahm an, die Fortpflanzungszellen müssten eine Art Anti-Aging-Hormon enthalten, da sie weniger schnell alterten als andere Zellen im Körper. In einem irregeleiteten Versuch, mehr von diesem magischen Elixier in den Körper zu transferieren, verpflanzte er Affenhoden in die Hoden seiner Patienten – mit erwartungsgemäß tragischem Resultat.
Auch der inbrünstige Glaube an ein rosiges Leben nach dem Tode konnte niemanden von dem verzweifelten Streben nach Langlebigkeit abbringen: In den fünfziger Jahren war der alte Papst Pius XII. ständig von sechs Ärzten umgeben, und ein Schweizer Mediziner namens Paul Niehans injizierte ihm einen Extrakt aus den Drüsen von Lämmerföten. Auf der eindrucksvollen Patientenliste der Niehans’schen Klinik in Montreux standen Könige und Hollywood-Stars. Im Laufe der Jahrhunderte», schloss Boustany, «brauten Alchemisten und Quacksalber alle möglichen Tränke und Elixiere zusammen – Jungbrunnen, die die verlorene ‹Essenz des Lebens› ergänzen oder auffüllen sollten. Inzwischen haben wir statt der Karren der fahrenden Wunderärzte unsere Supermarktregale mit ‹Nahrungsergänzungsmitteln›, und statt Schlangenöl preisen Pseudowissenschaftler uns heute Hormone, Mineralien und andere Wunderkuren im Internet an und versprechen uns die Rückkehr unserer Jugend. Es gibt nur wenige oder gar keine wissenschaftlichen Belege für ihre Behauptungen – und wenn, dann basieren sie auf einer höchst selektiven Interpretation der Daten. Aber die Suche ist immer noch die gleiche. Es ist die letzte Grenze, die einzige, die wir noch erobern können.»
Mia seufzte düster. «Also muss ich wohl annehmen, dass wir es hier mit einem Irren zu tun haben.»
«Hört sich so an.»
Als Mia schließlich auflegte, dachte sie beklommen daran, die Vorstellung vom «wahnsinnigen Wissenschaftler» stets beiseitegeschoben zu haben. Doch wenn sie sich nach
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