Immortalis
Dunkelheit hallte. Der Mann mit der Pistole hatte sich seinen beiden Kollegen angeschlossen. Alle drei versuchten jetzt, Faruk und Evelyn zu ergreifen, fremde Aufmerksamkeit brauchten sie nicht mehr zu befürchten.
Jeder Schritt bereitete Evelyn größere Mühe. Sie wollte schon aufgeben, als sich auf der rechten Seite eine enge Seitenstraße öffnete, die entlang der Rückseite der Moschee zur Rue Weygand hinunterführte, einer Hauptstraße mit dichtem Abendverkehr – und mit Taxis.
Diese Aussicht verlieh ihr neue Kräfte, und auch Faruk schien wieder Mut zu fassen. «Kommen Sie», schrie er, und sie stürmten nach rechts in die menschenleere Gasse. Keuchend hasteten sie auf die hellen Lichter zu. Vielleicht würden sie dort in Sicherheit sein.
Sie hatten die Hälfte des Weges hinter sich, als ein einzelnes Auto in die Gasse einbog und auf sie zukam.
Es war ein schwarzer BMW.
Faruk rannte schnurstracks auf den Wagen zu und fing an, wie ein Wilder zu winken und um Hilfe zu schreien, aber Evelyn verlangsamte erschrocken ihre Schritte. Sie sah die Silhouette des Mannes am Steuer im Gegenlicht der hellen Straße hinter ihm. Es sah aus, als halte er ein Handy ans Ohr.
Irgendetwas sagte ihr, dass er nicht zufällig hier war.
«Faruk», rief sie, «warten Sie.»
Faruk kam stolpernd zum Stehen und drehte sich zu ihr um, atemlos und verwirrt. Evelyn beäugte noch immer misstrauisch den Wagen, als dieser plötzlich mitten in der Gasse hielt. Der Motor brummte bedrohlich. Dann blendete der Fahrer die Scheinwerfer auf, und die Gasse war von hartem, hellem Licht durchflutet.
Evelyn wich zwei Schritte zurück und versuchte ihre Augen vor dem grellen Licht zu schützen. Sie hörte Geräusche hinter sich, und als sie sich umdrehte, sah sie, wie die drei Männer in die Gasse gestürmt kamen, hell angestrahlt von den Autoscheinwerfern. Sie blieben stehen, als sie sie sahen. Einer von ihnen hielt ein Klapphandy in der Hand. Langsam ließ er es zuschnappen und steckte es in die Tasche. Dann sah er sich um, vergewisserte sich, dass die Luft rein war, und nickte seinen Kumpanen zu. Eine Autotür öffnete sich klickend. Evelyn wirbelte herum und sah, dass der Fahrer ausstieg.
Sie schaute Faruk an. Starr vor Angst, genau wie sie, stand er da, während die vier Jäger immer näher kamen. Der schwarze BMW mit weit offener Fahrertür brummte im Hintergrund wie ein hungriges Ungeheuer, das darauf wartete, gefüttert zu werden.
Evelyn fing an zu schreien.
8
Mia hörte die Schreie ihrer Mutter, als sie an der Moschee ankam. Sie spähte in die Gasse und sah, wie Evelyn mit zwei Männern rang. Sie befanden sich in der Mitte der engen Straße, vielleicht fünfzig Meter von Mia entfernt. Das Scheinwerferlicht ließ sie blinzeln, aber sie glaubte den Kühlergrill eines BMW zu erkennen.
Evelyn trat schreiend um sich, und der Kollege des Androiden versuchte, ihr den Mund zuzuhalten. Sie biss ihn in die Hand und schlug dann mit ihrer Handtasche nach ihm, was ihn nur noch weiter anspornte. Er packte die Handtasche, entriss sie ihr und schleuderte sie zu Boden, bevor er Evelyn einen brutalen Schlag mit dem Handrücken versetzte. Sie taumelte rückwärts.
Ein Stück weiter oben stand Faruk mit dem Rücken an der Außenmauer der Moschee, die sich an der Gasse entlangzog. Er sah aus wie das sprichwörtliche erstarrte Wild im hellen Licht der Scheinwerfer. Zwei Männer bewegten sich auf ihn zu. Der eine hatte eine Hand erhoben und streckte in einer bedrohlichen Geste die Finger aus.
Mia erstarrte. Sie war versucht, sich hinter der Straßenecke an der Mauer in Sicherheit zu bringen und sich aus allem herauszuhalten. Jeder Kampfgeist, den sie vielleicht besaß, wurde von ihrem gesunden Menschenverstand niedergeprügelt. Die Chancen, etwas auszurichten, standen überwältigend schlecht, und sie war nun mal nicht Batgirl.
Na ja, eine Möglichkeit gab es vielleicht.
Primitiv. Urzeitlich. Nicht besonders kreativ oder abenteuerlich.
Vielleicht gefährlich.
Ganz sicher gefährlich, wenn sie es sich recht überlegte. Aber sie musste etwas tun.
Also schrie sie sich die Seele aus dem Leib.
Zuerst: «Mom!» Dann: «Hilfe!»
Das Getümmel in der Gasse erstarrte plötzlich. Alle Gesichter wandten sich langsam Mia zu. Die Kidnapper starrten überrascht zu ihr herauf, dem Mann, der mit Evelyn kämpfte, klappte verblüfft der Unterkiefer herunter, und Evelyn warf Mia einen kurzen Blick voller Verzweiflung und Dankbarkeit zu, den Mia nie vergessen
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