Immortalis
sie schließlich zögernd nach einer bedeutungsschwangeren Gesprächspause, «was ist hier eigentlich los?»
Sie sah, dass er ihrem Blick eine Sekunde lang auswich, aber dann schaute er sie an. «Was meinen Sie damit?», fragte er.
«Ich glaube, ich habe nicht einmal annähernd begriffen, was passiert ist.»
Corbens Miene verdüsterte sich. «Ich bin nicht sicher, ob ich da viel mehr weiß als Sie. Wir sind beide ohne Vorwarnung ins kalte Wasser geworfen worden, und bisher haben wir nur auf das reagieren können, was gerade passierte.»
«Aber Sie haben doch sicher eine Vermutung», beharrte sie und fühlte, dass sie rot wurde. Sie war es nicht gewohnt, jemanden derart zu bedrängen. Aber sie war auch noch nie in einer solchen Situation gewesen. Nicht viele Leute hatten damit Erfahrung, dachte sie.
«Wie kommen Sie darauf?»
«Hören Sie auf, Jim.»
«Was meinen Sie?» Er hob fragend die Augenbrauen.
«Na, der Ordner zum Beispiel.»
«Welcher Ordner?»
Sie sah ihn ungläubig an. «Der Ordner, den Sie aus der Wohnung meiner Mom mitgenommen haben. Ich habe hineingeschaut, als ich in der Küche war.»
«Und …?»
«Von allen Sachen in ihrer Wohnung haben Sie sich ausgerechnet diesen Ordner ausgesucht. Überall ist dieses Symbol, die Schlange, die sich in den Schwanz beißt. Das gleiche Symbol habe ich auf dem Deckel eines der Bücher auf den Polaroid-Fotos gesehen, die sie mir bei der Polizei gezeigt haben. Auf den Fotos aus ihrer Handtasche.» Mia schaute ihm forschend ins Gesicht. Corben zuckte nicht mit der Wimper, aber er war Geheimdienstagent, und so wunderte sie das nicht. Sie war jetzt in Fahrt, also redete sie weiter. «Dann diese Gewalt auf dem Niveau eines Bandenkriegs! Herrgott, ich weiß schon, dass der Schmuggel von Museumsstücken kein Kavaliersdelikt ist, und ich bin keine Expertin für die Unterwelt oder für das, was in den Straßen Beiruts heutzutage als normal gilt, aber das alles kommt mir doch ziemlich hart vor: Da werden Leute auf offener Straße entführt, andere werden erschossen, eine Wohnung wird zusammengeballert …» Sie ließ den Satz unvollendet. Jetzt musste sie ihren ganzen Mut zusammennehmen, um weiterzureden. «Dazu kommt Ihre Beteiligung.»
Corben zog die Stirn kraus. «Meine Beteiligung?»
Mia verzog einen Mundwinkel zu einem wissenden und zugleich nervösen Lächeln. «Ich nehme nicht an, dass die CIA sich damit beschäftigt, gestohlene Museumsstücke zurückzuholen.»
«Eine amerikanische Staatsbürgerin wurde entführt», erinnerte Corben sie. «Das fällt in die Zuständigkeit der CIA.» Gelassen nahm er einen letzten Schluck aus seiner Bierflasche und stellte sie auf den Tisch, bevor er sie wieder anschaute.
Undurchschaubar wie die Sphinx , dachte sie, und ihre Gedanken gerieten auf ein Nebengleis: Wie schwierig musste es sein, ihm am Pokertisch gegenüberzusitzen oder, schlimmer noch, mit einem so verschlossenen Menschen zusammenzuleben. «Wenn Sie es sagen. Aber …» Sie zuckte die Achseln. Sie war kein bisschen überzeugt. «Hören Sie, Jim.» Sie suchte in seinen Augen nach einem Anhaltspunkt, nach einem Zeichen dafür, dass er bereit war, sich zu öffnen. «Sie ist meine Mom. Ich weiß, Sie haben da diese Regel, dass jeder nur so viel weiß, wie er wissen muss. Das verstehe ich auch. Aber hier steht das Leben meiner Mutter auf dem Spiel, und vielleicht auch meins.»
Sie schaute ihm fest ins Gesicht. Fast konnte sie das Drehen der Zahnräder in seinem Kopf hören, als er abwog, was er ihr anvertrauen konnte und was er unter Verschluss behalten musste. Nach kurzem Schweigen schürzte er die Lippen und nickte fast unmerklich. Dann stand er auf, ging durch das Zimmer, holte seinen Aktenkoffer und setzte sich wieder. Er öffnete das Zahlenschloss, nahm Evelyns Ordner heraus und platzierte ihn vor sich auf dem Tisch. Dann legte er die Hände auf den Deckel.
«Ich habe noch kein vollständiges Bild von dem, was hier vorgeht, okay? Aber was ich weiß, werde ich Ihnen erzählen.» Er klopfte mit der flachen Hand auf die Unterlagen. «Ihre Mom hatte das hier offen auf dem Schreibtisch liegen – eine alte Akte, die auf den ersten Blick nichts mit ihrer aktuellen Arbeit zu tun hat. Sie liegt genau an dem Tag auf ihrem Tisch, als sie jemanden trifft, der früher einmal mit ihr an einer Ausgrabung im Irak gearbeitet hat. Ich nehme an, dass er ihr die Polaroids gegeben hat, die in ihrer Handtasche waren. Vielleicht hat er mit ihr über den Verkauf gesprochen,
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