Immortalis
vielleicht hat er gehofft, sie könnte ihn mit einem Käufer zusammenbringen. Vielleicht hat sie sich aber auch selbst dafür interessiert. Nämlich deshalb.» Er klappte den Ordner auf, zog eine Fotokopie heraus, eine der Uroboros-Abbildungen, und schob sie zu Mia hinüber. «Wie Sie ganz richtig bemerkt haben, hat die Ausgrabung, die in diesen Unterlagen dokumentiert ist, etwas mit diesem Schlangensymbol zu tun, das sich auch auf dem Buch befindet.»
Es war ein Schwarzweißbild der kreisförmigen Schlange, ein jahrhundertealter Holzschnitt. Mia betrachtete das Bild aufmerksamer als zuvor. Das Tier war mehr als eine Schlange. Es hatte übertrieben große Schuppen und Zähne und sah eher aus wie ein Drache. Seine kalten Augen starrten ausdruckslos, so als sei es völlig natürlich, sich selbst zu fressen. Es war ein unheimliches Bild, eine vergilbte, verwitterte Kopie, die vor Bösartigkeit nur so stank.
Mia hob den Kopf und sah Corben an. «Was ist das?»
«Ein Uroboros. Das Symbol ist sehr alt und wurde zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen Kulturen verwendet.»
«Und was bedeutet es?»
«Anscheinend hat es mehr als eine einzige, spezifische Bedeutung. Ich glaube, es ist eher ein archetypisches, mystisches Symbol, das für verschiedene Völker unterschiedliche Bedeutungen hatte, je nachdem, wo es verwendet wurde. Ich habe viele Darstellungen gefunden, in antiken ägyptischen Mythen ebenso wie in Hindu-Legenden und später bei den Alchemisten und Gnostikern. Und ich habe nicht einmal viel Zeit darauf verwendet.»
Mia hatte Mühe, den Blick von der Abbildung loszureißen. «Die Antiquitäten sind gar nicht wichtig. Wer immer sie entführt hat, ist hinter dem Buch her.»
«Möglich. Das hier verrät uns vielleicht mehr.» Er klopfte mit dem Zeigefinger auf Evelyns Aufzeichnungen. «Ich hatte noch keine Zeit, sie gründlich durchzulesen. Aber darum geht es eigentlich auch nicht. Wichtig ist dieses Symbol nur insofern, als sie deshalb entführt wurde. Und ich glaube, die größte Chance, eine Spur zu finden, die uns zu ihr bringt, ist der Mann, der diese Fotos vermutlich gebracht hat, dieser Mann aus ihrer Vergangenheit, das irakische Faktotum, das sie im Gespräch mit Ihnen erwähnt hat. Er weiß mehr über das, was hier vorgeht und wer sonst noch beteiligt ist. Wir wissen nichts über ihn, aber …» Corben zögerte. Aber dann fuhr er fort: «Sie könnten recht haben mit Ihrer Vermutung, dass es der Mann bei ihr war, als sie entführt wurde. Und wenn er es war – na ja, dann haben Sie ihn gesehen. Sie können ihn identifizieren. Und wenn es wirklich derselbe ist, dann hoffe ich» – er drehte den Ordner zu ihr um –, «dass vielleicht irgendwo hier drin ein Foto von ihm ist. Das würde uns sehr weiterhelfen.»
Sie sah ihn unsicher an. Seine Antwort brachte sie aus der Fassung. Aber dann nickte sie und schlug den Ordner auf. Das Material darin war aufregend – die Notizblätter, mit Tinte beschrieben in der anmutigen, klassischen Handschrift, die sie so gut aus den Briefen von früher kannte, die Fotokopien von Dokumenten und Buchseiten in Englisch und Arabisch und vereinzelt auch Französisch, mit unterstrichenen Passagen und gekritzelten Kommentaren am Rand, die Landkarten des Irak und der weiteren Levante mit Markierungen und Pfeilen und Kreisen und immer wieder Fragezeichen. Aber so verlockend das alles war, sie warf doch beim Blättern nur einen flüchtigen Blick darauf, denn sie suchte nach den Fotos, die sie anschauen musste.
Sie stieß auf ein paar alte Schnappschüsse, verstreut zwischen den einzelnen Seiten, und betrachtete sie eingehend. Auf einigen erkannte sie eine jüngere, schlankere Evelyn in Khakihosen und mit Strohhut und einer großen Schildpatt-Sonnenbrille, und sie stellte sich das aufregende, unkonventionelle Leben vor, das ihre Mutter damals geführt haben musste: eine unverheiratete Frau aus dem Westen, die an exotische, glutheiße Orte reiste, andere Völker kennenlernte, in ihre Kultur eintauchte und mit ihnen zusammenarbeitete, um die verborgenen Schätze ihrer Vergangenheit ans Licht zu bringen. Ein Leben voller Energie, ganz sicher, und höchstwahrscheinlich ein erfülltes Leben, aber eines, das auch seinen Preis hatte: in Evelyns Fall eine wehmütige Einsamkeit, die sie vor der Welt verborgen hielt.
Ihre Finger verharrten bei einem Foto, auf dem Evelyn allein mit einem Mann zu sehen war. Seine Gesichtszüge waren verdeckt von seiner Sonnenbrille und dem Schatten seiner
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