Immortalis
auszukleiden und in die Wanne zu steigen. Später, als sie seine Wunde verbunden und ihm etwas zu essen gebracht hatte, löschten sie alle Kerzen bis auf die eine neben dem Bett und liebten einander mit hemmungsloser Gier.
Er erwachte im ersten Licht der Morgensonne und betrachtete die Schlafende an seiner Seite. Sanft strich er mit der Hand über ihren Rücken; seine Fingerspitzen berührten ihre glatte Haut, und ihn graute vor dem unausweichlichen neuen Leben, das er bald würde beginnen müssen.
Er sah zu, wie sie friedlich an seiner Seite atmete, und seine Gedanken flüchteten sich in ein sonnigeres Leben, das nicht aus einer einzigen Lüge bestand und in dem er die schwindende Zeit genießen konnte, die ihm noch blieb. Wie so oft stellte er sich die Frage, die ihn in letzter Zeit quälte: Gab es wirklich gute Gründe für die Suche, der er sein Leben geweiht hatte? Oder war es nicht endlich an der Zeit, das alles aufzugeben und ein Dasein in seliger Bedeutungslosigkeit zu führen?
Als er seinen bisherigen Lebensweg betrachtete, überkamen ihn weitere Zweifel. Was würde er letzten Endes erreichen, wenn es ihm tatsächlich gelänge, zu finden, was er suchte?
Es zu finden war die eine Sache.
Es bekannt zu geben, es der Welt zu offenbaren und dafür zu sorgen, dass es allen zur Verfügung stand und von allen geteilt werden konnte … das war eine noch größere Herausforderung.
Die Welt war noch nicht bereit dafür, das stand fest. Einflussreiche Mächte würden sich zusammentun, um das Neue zu ersticken und zu verhindern, dass es die Menschheit veränderte – und stärkte. Unsterblichkeit – eine individuelle, geistige Unsterblichkeit – war ein Geschenk, das nur die Kirche zu vergeben hatte. Nichts durfte die Furcht vor dem unausweichlichen und unabweisbaren Ruf des Todes lindern. Das Geschenk, nach dem er da strebte, war ein undenkbares Sakrileg. Die Kirche würde es niemals hinnehmen. Wer war er, dass er glaubte, er könne so viel hasserfüllte Feindseligkeit überwinden?
Ratlosigkeit erfüllte ihn. Seine Müdigkeit und der Anflug von Verzweiflung wurden von der Erkenntnis verdrängt, dass die Zukunft trotz allem verheißungsvoll aussah. Mit jedem Jahr, das verging, spürte er den frischen Wind des Wandels, der durch die Städte der Menschen wehte. Salons und Kaffeehäuser waren voll von neuen Ideen, die Unwissenheit, Tyrannei und Aberglauben in Frage stellten. Religiöse Dogmen und Verfolgung gerieten ins Wanken. Rousseau, Voltaire, Diderot und andere arbeiteten fieberhaft und wehrten sich tatkräftig gegen die Unterdrückung ihrer Werke durch die allgegenwärtigen Jesuiten. Das Volk sah sich gestärkt und inspiriert durch die Worte großer Denker, die glaubten, dass der Mensch in seinem Wesen gut und das Streben nach einem Glück, das durch eine brüderliche Gesellschaft und durch Fortschritt erreicht war, sehr viel vernünftiger und edler sei als die Hoffnung, durch Buße ins Paradies zu gelangen.
Allmählich wagten die Menschen, ihr Leben höher zu schätzen als die ewige Seligkeit. Aber noch immer waren viele Hürden zu überwinden. Vor allem Armut und Krankheit. Der frühe Tod lauerte hinter jeder Ecke, und die klügsten Köpfe bemühten sich immer noch, zu verstehen, woraus der menschliche Körper bestand und wie er funktionierte. Was er suchte, konnte eine machtvolle Ablenkung für ihre Arbeit sein – mit katastrophalen Folgen. Und dazu kam das scheinbar unüberwindliche Problem der Habgier des Menschen, seine angeborene Neigung, Reichtümer zu begehren und anzuhäufen. Di Sangro war dafür das beste Beispiel.
Er betrachtete die Umrisse der Frau an seiner Seite und streichelte ihre nackte Schulter. Selbst im Schlaf schien ihr Gesicht zu strahlen; er sah Verheißung und Inspiration in den feingeschnittenen Konturen, und der Anblick quälte ihn. Etwas tief in seinem Innern zerriss.
Er war erschöpft.
Vielleicht war das alles unerreichbar. Vielleicht wurde es Zeit, an sich selbst zu denken.
Vielleicht war es Zeit, aufzugeben.
Der Gedanke war tröstlich. Aber es gab drängendere Probleme.
So oder so, er würde fortgehen müssen. Er konnte reisen und sich eine neue Identität verschaffen. Für den König hatte er zwei heikle Missionen erfüllt, und der Monarch hatte in einem weiteren fehlgeleiteten Versuch, seine Stellung zu festigen, das Secret du Roi begründet, das königliche Geheimnis. Es war der Versuch, durch Agenten, die er ins Ausland entsandte, heimliche Ziele zu erreichen, die
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