Immortals After Dark 12 - Lothaire
wieder zu Atem zu kommen, ihr Verlangen zu unterdrücken.
In Filmen wurden Vampire immer als außerordentlich attraktiv dargestellt, auf geradezu hypnotische Weise. Sicher übte er irgendeine unheimliche Macht über sie aus, verfügte über übernatürliche Eigenschaften. Obwohl die wesentlich wahrscheinlichere Erklärung die war, dass sie nach ihrem langen Gefängnisaufenthalt einfach völlig ausgehungert war.
Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, tapste sie zu ihrem Schrank, der sie mit seiner ungeheuren Auswahl gleich noch einmal überwältigte. Hier konnte sie Stunden damit verbringen, immer wieder neue Kombinationen zusammenzustellen. Sie hatte die aktuelle Mode in Frauenzeitschriften nie verfolgt, weil ihr klar gewesen war, dass sie niemals eine derartige Auswahl besitzen würde, um sich verschiedene Outfits zusammenzustellen oder einen persönlichen Stil zu entwickeln. Genau genommen hatte sie die Frauen verachtet, die über die Mittel – und die Zeit – verfügten, sich Mode leisten zu können.
Aber ich hab immer noch keine Zeit für so was.
Sie rief sich ins Gedächtnis, dass ihr höchstens noch ein Monat blieb, und wählte rasch eine beige Hose und einen blauen Pulli mit tiefem Wasserfallausschnitt. Da das Outfit ohne Schuhe albern aussah, schlüpfte sie in ein Paar tabakfarbene Pumps.
Ob der Vampir wohl schon wach war? Ob es zu einer weiteren Unterhaltung – oder Konfrontation – zwischen ihnen kommen würde? Sie fragte sich, ob dieses flattrige Gefühl in ihrem Bauch Hunger war. Oder die Nerven?
Sie flocht sich noch schnell einen Zopf, allerdings nur über ihren Scheitel hinweg, sodass sich die übrigen Locken offen über ihre Schultern ergossen. Nachdem sie kurz über Make-up nachgedacht hatte, entschied sie sich für Lipgloss in einer hellen Nuance.
Da erklang ein donnerndes Gebrüll aus seinem Zimmer. Ein weiteres Brüllen folgte, und noch einmal. Lauter, immer lauter …
Dann Ruhe.
16
Als Lothaire erwachte, lag er auf einer Schneeverwehung. Auch wenn es in New York sicherlich noch Tag war, verströmte der Mond sein gelbes Licht über ihn.
Schlaftranslokation
. Wieder einmal.
Wo zur Hölle bin ich?
Würde das denn jetzt jedes Mal passieren, wenn er schlief?
Sein Blick irrte herum, bis er seinen Aufenthaltsort erkannte. Er kehrte häufig an diesen Ort zurück, mittlerweile gehörte er ihm.
Das Feld, auf dem seine Mutter gestorben war.
Nur zu deutlich erinnerte er sich an Iwanas Tod und die darauf folgende Nacht. An einem ruhigen Abend genau wie diesem hier war er schließlich imstande gewesen, seinen Kokon aus Schnee zu verlassen …
Die Sonne war kaum untergegangen, als er sich aus dem Schnee ausgrub. Die Menschen waren längst fort, aber Lothaire war gezwungen gewesen, in Todesangst bis zur Dämmerung zu warten.
Endlich brach er durch die äußere Eisschicht und rannte los, um seine Mutter zu suchen, denn er hoffte entgegen aller Vernunft. Dann erspähte er, was von der stolzen Iwana übrig war: schwarze Asche, die sich scharf gegen den weißen Schnee absetzte.
Mit einem erstickten Schrei streckte er die Hände nach ihren Überresten aus, doch da seufzte eine leise Brise und verstreute ihre Asche über das Feld.
»Nein, nein, Mutter!« Weinend wollte er sich auf die Überreste stürzen, in dem panischen Versuch, wenigstens ein Fragment von ihr zu berühren …
Doch stattdessen
translozierte
er sich, sodass seine Fingerspitzen noch die zerfallende Asche streiften. Das war das erste Mal, dass es ihm gelungen war, sich zu teleportieren. Es war ein entsetzlicher Schock für ihn. Nur wenige Stunden früher hätte diese Fähigkeit Iwanas Opfer verhindern können.
Er sank auf die Knie, von bitterem Hass gegen sich selbst erfüllt.
Ich habe versagt und sie im Stich gelassen.
Er weinte – bis er schließlich eine Präsenz spürte.
Die Dakier, sie umringten ihn, von Nebelschwaden verhüllt.
Seine Mutter hatte ihm gesagt, dass ihre Familie kommen und ihn holen würde, sobald die Menschen verschwunden waren. Und nun war sie da.
»
Lothaire
«, flüsterten sie wie der Wind.
Er schoss auf die Füße, drehte sich ruckartig im Kreis. »Zeigt euch!« Er wendete den Hass, den er für sich selbst empfunden hatte, nach außen. In Gedanken hörte er die Stimme seiner Mutter: »
Verlass dich auf die kühle Vernunft.
« Aber dazu war er nicht in der Lage.
Der Zorn brannte in ihm, so wie die Sonne sie verbrannt hatte.
»Ihr elenden Feiglinge! Wo wart ihr denn letzte Nacht? Wo ist Sergei?«,
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