In alle Ewigkeit
mal was erzählt.«
»Och... das war doch nur dummes Gerede.« Er hob sein Glas und sah zu seiner Verwunderung, dass es leer war. Er stand auf, ging zur Flasche, goss sich ein. Eineinhalb Dezimeter. »Er braucht sie jetzt offenbar. Es ist nicht gut, allein zu sein. Mit den Kindern.«
»Keine Verwandten?«
»Jedenfalls nicht in der Stadt.«
Angela sah aus dem Fenster, als er zurückkam und sich setzte. Draußen verdunkelte sich der Himmel, über den Hausdächern waren noch gelbe Streifen.
»Ich muss die ganze Zeit an die Kinder denken«, sagte sie und wandte sich wieder zu Winter um. »Waren sie nicht vollkommen erschüttert?«
»Nein, jedenfalls äußerlich nicht. Sie waren sehr still. Das war wohl der Schock.«
Jemand auf dem Hof lachte laut, mehrere lachten. Er stand auf und ging zum Fenster. Vier Stockwerke tiefer saß eine Gesellschaft und ließ es sich gut gehen in der Sommernacht. Er schloss das Fenster und blieb stehen.
Was würde jetzt passieren? Er brauchte Halders, aber er würde keine Minute zögern, ihm frei zu geben, wenn er zu Hause bleiben wollte. Das hatte Halders zu entscheiden. Winter würde ihn nicht beeinflussen.
In erster Linie sind wir schließlich Menschen. Er kehrte zu Angela und dem Whisky zurück.
6
Es war warm im Zimmer, sommerschwül. Von draußen kein Wind, nichts, was man hereinlassen könnte, um die Luft auszutauschen, die sich klebrig auf der Haut anfühlte.
Winter sah auf den Stapel Ordner vor sich, Papiere, Fotos. Es gab frische Ausdrucke aus Möllerströms Computer, aber das meiste roch nach vergangenen Zeiten. Vor fünf Jahren, ein anderer Sommer. Beatrice Wagner. Die Papiere über ihren gewaltsamen Tod verströmten einen Geruch nach Staub und trockener Dunkelheit, vermittelten einen falschen Eindruck von Frieden, der so aufdringlich war, dass er fast bereit gewesen wäre, diese Mordbibel beiseite zu legen und nach der neuen zu greifen, die gerade mit Angelika Hansson begonnen hatte.
Die Mordbibeln waren gesammelte Berichte über den Tod, gesammelt fürs ewige Lesen, wieder und wieder. Kein Friede.
Er hatte sich einen Ordner mit Presseberichten bestellt. Das Zeitungspapier fühlte sich an wie hundert Jahre alt, als er es anfasste.
Er stand auf, stellte sich ans offene Fenster und zündete sich einen Corps an. Der Zigarillo schmeckte sauber und leicht nach dem Blättern in den alten Dokumenten. Es war der dritte an diesem Morgen. Er rauchte über zwanzig am Tag, manchmal mehr. Zu Hause rauchte er nicht mehr, das war immerhin ein Fortschritt. Und es gab noch eine >gute< Neuigkeit: Corps Diplomatique war im Begriff vom Markt zu verschwinden. Im Tabakladen hatte man ihn gewarnt. Jedes Päckchen könnte das letzte sein, aber Winter hatte keine Begabung zum Hamstern. Wenn es keine Corps mehr gab, würde er das Rauchen aufgeben.
Er nahm einen Zug und beobachtete den schwachen Verkehr auf der anderen Seite des Flusses. Straßenbahn, Bus, Auto, wieder eine Straßenbahn, Fußgänger. Alles in einem Sonnenlicht, das um die Mittagszeit keine Schatten warf.
Wenn es keine Corps mehr gibt, höre ich auf, dachte er.
Wenn es keine Leichen mehr gibt, höre ich auf. Ha!
Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück, entschlossen, den ganzen Fall Beatrice bis zum Anfang zurückzuverfolgen, sich durch alle Zeugenaussagen, alle Berichte zu kämpfen. Gab es dort etwas, das ihnen jetzt von Nutzen sein konnte, würde er es finden, würde versuchen, es zu finden. Nein. Er würde es finden.
Beatrice Wagner hatte mit ihren Eltern in einer Villa in Pävelund im Westen der Stadt gewohnt, gut zehn Kilometer von der Villa in Langedrag entfernt, in der Jeanette Bielke wohnte.
Es können kaum mehr als zwei weitere Kilometer von Pävelund zu der Villa in Önnered sein, wo Angelika Hansson gewohnt hat, dachte Winter. Zwei Kilometer Richtung Süden.
Er stand wieder auf und ging zum Stadtplan an der Wand und zog mit dem Finger eine gerade Linie, die von Angelikas zu Beatrices Wohnort nach Norden ging und bei Jeanettes Stadtteil endete. Eine pfeilgerade Linie. Es war eigentümlich, brauchte aber nichts zu bedeuten. Bedeutete vermutlich auch nichts.
Er blieb vor dem Stadtplan stehen. Beatrice Wagner war aufs Frölundagymnasium gegangen. Genau wie Angelika und Jeanette hatte sie das Abitur abgelegt, im humanistischen Zweig, genau wie die anderen beiden. Sie war in der Stadt geblieben, während die meisten verreist waren. Im Augenblick konnte er sich nicht erinnern, ob sie einen Sommerjob gehabt hatte.
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