In Blut geschrieben
leider los, Sheriff. Sie haben ja meine Nummer. Wenn es noch etwas gibt, rufen Sie mich bitte an.«
Murdoch zuckte mit den breiten Schultern, und die junge Frau kehrte zu ihrem BMW zurück. Sie schaltete den CD-Player ein, und die sanfte Trompete von Miles Davis erklang.
Auf der Fahrt erhielt Annabel einen Anruf von Jack Thayer. Schlechte Nachrichten. Erstens, mehrere der Skelette wiesen eine schreckliche Besonderheit auf: Man hatte den oberen Teil des Schienbeins abgetrennt. Nicht allen, aber bei fast einem Viertel der Erwachsenen. Bei den Kindern jedoch nicht. Außerdem waren nicht alle Skelette vollständig, es fehlten mehrere Schädel, Oberschenkel und Brustkörbe. Zweitens, und das war auch kein gutes Zeichen, waren die Federals vor Ort aufgetaucht. Angesichts der Umstände – wiederholte grenzüberschreitende Entführungen und schließlich zwei Feds unter den identifizierten Opfern – bestand das FBI darauf, in die Ermittlungen einbezogen zu werden. Bislang hatten sie sich zurückgehalten, doch jetzt, da sie durch die Entdeckung des Waggons über genügend Indizien verfügten, betraten sie die Bühne für den letzten Akt, um die Lorbeeren zu ernten. Noch hatte das FBI die Ermittlungen nicht offiziell übernommen, doch das war nur eine Frage der Zeit. Die Medien machten immer mehr Druck, je mehr vom Ausmaß der Entführungen bekannt wurde.
Durch das nächtliche Polizeiaufgebot alarmiert, liefen in der Region von Montague unermüdlich die Fernsehkameras. Wenn Bob sein Fernsehgerät eingeschaltet hatte, wusste er nun, dass sein kleiner Spielplatz aufgeflogen war. Nach der Warnung der letzten Nacht fürchtete Annabel seinen Zorn. Laut verfluchte sie die Journalisten und dann auch die G-Men 1 . Wenn das FBI die Ermittlungen an sich riss, würde das NYPD mit aller Macht Druck ausüben, denn schließlich hatten die New Yorker die ganze Drecksarbeit gemacht, sich die Nächte um die Ohren geschlagen und alles andere …
Hundemüde, aber noch immer entschlossen, nichts herzugeben, auch wenn das FBI schon vor der Tür stand, verabschiedete sich Thayer mit ein paar ermunternden Worten von seiner Kollegin.
Annabel blickte von der Verrazano Bridge auf die graue Bucht und fuhr nach Brooklyn Heights. Als sie vor ihrem Haus aus dem Wagen steigen wollte, öffnete ihr eine Hand galant die Tür.
»Ich habe soeben im Radio einen gewissen Sheriff Tuttle aus Montague gehört«, sagte Brolin. »In einer knappen Pressemitteilung berichtete er von der Entdeckung eines Massengrabs. Ich habe den Eindruck, dass ihm eingeflüstert wurde, was er sagen durfte und was nicht. Zum Glück hat er keine Verbindung zu Ihren Ermittlungen hergestellt. Aber ich fürchte, es wird nicht lange dauern, und …«
Annabel zuckte mit den Schultern. Nun, da das FBI mit im Rennen war, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Feds die Führung übernehmen würden. Dann konnten die sich mit den Medien herumschlagen. Doch wie allen Cops gefiel es ihr überhaupt nicht, von den Ermittlungen ausgeschlossen zu werden.
Sie wandte sich zu Brolin um, ihre Zöpfe flatterten im Wind. Sie bemerkte den Hund im Hintergrund, der sie neugierig beobachtete. Brolin war ins Hotel gegangen, um ihn abzuholen.
»Was wollen Sie mir denn so Wichtiges erzählen?«, begann sie unverzüglich. »Ich war gerade in Phillipsburg bei Sheriff Murdoch. Sie haben einfach aufgelegt, ohne eine Erklärung. Wenn ich es so machen würde wie Sie, hätte ich Sie hier vor der Tür stehen lassen müssen.«
Ein Anflug von Belustigung huschte über seine Lippen. Sie war überhaupt nicht wütend. Sie hat einen starken Willen, das ist alles, und sie mag es nicht, wenn sie nicht alles im Griff hat …
»Kommen Sie, wir müssen reden.«
Er zog sie in eine Parallelstraße, eine Fußgängerpromenade mit Blick auf die Bucht und auf Manhattan. Seit September war das Geländer mit dreifarbigen Blumensträußen, Staatsflaggen sowie den Fotos der bei der Katastrophe getöteten Personen geschmückt. Die Attentate hatten neben einer beispiellosen Etaterhöhung für sämtliche Nachrichtendienste auch zu einer unglaublichen Welle des Patriotismus geführt. Das ganze Land hatte sich in die Nationalfarben gehüllt, selbst die M&Ms waren jetzt rot, blau und weiß.
»Annabel, was können Sie mir über diese Skelette in dem Waggon erzählen?«
»Wie bitte? Sie waren es doch, der mir etwas Wichtiges mitteilen wollte, oder?«
Sie gewöhnte sich allmählich an die charismatische Ausstrahlung ihres Begleiters
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