In Blut geschrieben
wurde der Verkehr dichter.
Brolin hatte eben das Hotel verlassen und beschlossen, zu Fuß zur St. Edwards Church zu gehen, um richtig wach zu werden. Unterwegs wählte er auf seinem Handy die Privatnummer von Larry Salhindro, Polizist in Portland und seit mehreren Jahren sein Freund. Aufgrund der Zeitverschiebung wurde Salhindro unsanft aus dem Schlaf gerissen.
»Vielen Dank für so viel Aufmerksamkeit«, knurrte er mit rauer Stimme. »Wie geht es in Big Apple?«
»Ich komme voran, Larry, aber ich muss dich um einen Gefallen bitten.«
»Schieß los.«
Obgleich die beiden seltener Kontakt hatten als früher, versorgte Larry Salhindro Brolin noch immer gerne mit Informationen. Ein gemeinsam durchlebter Schmerz hat manchmal den Vorteil, dass es keiner Worte zwischen den Beteiligten bedarf, denn er schweißt sie auch nach langer Trennung noch zusammen.
»Ich brauche die Liste aller Mithäftlinge von einem gewissen Spencer Lynch – all seine ›Stubenkameraden‹.«
»Warte, ich notiere, wie heißt dein Typ?«
»Spencer Lynch, geboren in Rochester, im Staat New York. Er war auf Riker’s Island im Gefängnis.«
Salhindro seufzte.
»Das ist die Ostküste, das wird schwer herauszufinden sein.«
»Ich weiß, Larry. Danke.«
»Okay, ich faxe sie dir so bald wie möglich.«
Brolin gab ihm die Faxnummer seines Hotels. Salhindro führ fort: »Und wie geht es dir so?«
»Gut. Die Stadt ist gar nicht schlecht, besser, als ich sie in Erinnerung hatte.«
»Das wundert mich nicht.«
Salhindro fand, dass Brolin in seiner derzeitigen Situation in einer Stadt wie New York viel besser aufgehoben war, doch er sagte nichts. Plötzlich tat ihm sein Freund Leid – und das gleich beim Aufwachen, das konnte ja nur ein beschissener Tag werden.
»Ich muss los, ich rufe dich später an, Larry. Und noch mal danke.«
Damit verabschiedeten sie sich, und Brolin fragte sich, warum er Salhindro gern von Annabel erzählt hätte.
Weil sie das Leben ebenso sieht wie du, und weil sie dir ähnlich ist. Du magst sie, mach dir nichts vor!
Ja, es ließ sich nicht leugnen. Hätte er in der Gegend gewohnt, hätten sie sich öfter getroffen und wären sicher gute Freunde geworden.
Der Wind half ihm, diese Gedanken zu vertreiben, und er setzte seinen Weg fort. Schließlich bog er nach rechts ab und lief unter der Brücke des Brooklyn-Queens-Express hindurch, die sich über die Park Avenue spannte und sie einen guten Kilometer lang in Dämmerlicht tauchte. Er ging über den holprigen Bürgersteig, über seinem Kopf toste der Verkehr. Schließlich erreichte er die St. Edwards Street mit ihren braunen, leicht baufälligen Häuserblocks. Jede glatte Fläche war mit Graffiti bedeckt – finstere Motive, die ebenso gut eine Warnung hätten sein können. Obgleich er seine Waffe im Hoteltresor gelassen hatte, fühlte sich Brolin nicht in Gefahr, es war Tag, und schließlich befand er sich nicht in Cabrini Green, einem Problemviertel in Chicago.
Er ging an diesem Patchwork von schrillen Figuren entlang und sah zwischen den einzelnen Blocks fast nur ältere Menschen. Am Straßenrand parkte ein Pontiac, in dem zwei Jugendliche laute Musik hörten. Sie trugen Sonnenbrillen, doch Brolin wusste, dass sie ihn beobachteten. Wahrscheinlich Wachposten, dachte er. Wenn sie mich für einen Bullen halten, geben sie ein Zeichen, und der Dealer der Gegend, wo auch immer er gerade stecken mag, macht sich schnell aus dem Staub. Wenn sie mich aber für einen Spitzel halten, wird es prekärer.
Je weiter er in das Viertel vordrang, desto weniger hielt er es für einen idyllischen Spaziergang geeignet. Eisige Kälte legte sich auf die Szenerie und ließ alles erstarren: Kein Lüftchen regte sich, und die wenigen Personen, die zu sehen waren, schienen völlig apathisch. Der Verkehrslärm des BQ-E war bis hierher zu hören, wurde jedoch von den Bässen übertönt, die aus dem Pontiac drangen. Diskretion schien nicht die Stärke der Wachposten.
Plötzlich tauchte sie auf einem gartenähnlichen, mit Ahornbäumen bestandenen Grundstück auf.
St. Edwards und ihre beiden Türme, die sich gegen den weißen Himmel abhoben. Inmitten all dieser dunklen Wohnblocks nahm sie sich fast winzig aus.
Brolin trat näher und bemerkte eine weiße Marienstatue vor dem Portalvorbau mit der schwarzen Tür, die hinter dem Rücken der Madonna wirkte wie der Rachen eines vorzeitlichen Ungeheuers.
Das Presbyterium mit seinen vergitterten Fenstern duckte sich seitlich an die Kirche. Der
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