In Blut geschrieben
organisiert sein. Offenbar konnten sie kidnappen, wen sie wollten.
Draußen wurde es langsam dunkel, und Annabel hatte das Gefühl, eine immer größere Pyramide zu entdecken. Was sie zunächst für einen einfachen Opferaltar gehalten hatten, erwies sich als ein riesiger Tempel.
Brett Cahill hatte die enorme Aufgabe übernommen, die Akten aller Vermissten auszuwerten. Er notierte sämtliche Details, die ihm wichtig schienen, doch bislang waren es nicht viele.
Gegen siebzehn Uhr rief Coroner Ed Foster bei Annabel an, um ihr mitzuteilen, dass er ihr den Autopsiebericht gemailt habe, die zytologischen und toxikologischen Ergebnisse lägen noch nicht vor. Sie würden ihr direkt von den entsprechenden Laboren übermittelt werden.
»Gibt es etwas Neues seit heute Morgen?«
Die Stimme des Coroners klang durch das Telefon leicht verzerrt.
»Als Identifizierungshilfe habe ich den Armumfang sowie den Gelenkdurchmesser der beiden letzten Daumenglieder des Opfers gemessen, der rechte ist zweifelsfrei größer, also handelt es sich mit achtzigprozentiger Sicherheit um eine Rechtshänderin. Außerdem war sie bestimmt ein Junkie, ihre Milz war vergrößert, fast siebenhundert Gramm, an beiden Armen Einstichstellen, allergische Dermatitis. Na, das werden Sie alles in dem Bericht lesen, natürlich auch Größe, Gewicht und so weiter.«
»Haben Sie etwas über den Tathergang herausgefunden?«
»Ja«, antwortete er finster. »Meine Vermutung ›Tod durch Erwürgen‹ war nicht falsch, aber sie lag sowieso schon im Sterben, als er zugedrückt hat.«
Annabel verstand nicht, was er meinte.
»Dieses arme Mädchen ist unglaublich brutal gefoltert worden. Ich glaube, sie hat noch gelebt, als er ihr die Vagina verbrannt hat, vermutlich mit einem Schweißbrenner. Der Mageninhalt war intakt, vor allem aber habe ich Magenverletzungen festgestellt und stressbedingte Geschwüre im Zwölffingerdarm, die mich zu dieser Diagnose veranlassen. Die Verletzungen haben zu starken Blutungen im Verdauungstrakt und zu einer viszeralen Kongestion geführt – ein Anzeichen für eine lange Agonie. Einfacher ausgedrückt hatte die Kleine solch enorme Schmerzen, dass der Stress innere Blutungen hervorgerufen hat, an denen sie ohnehin gestorben wäre.«
»Sind Sie sicher, dass sie noch gelebt hat, als ihr die Verbrennungen beigebracht wurden?«
»Sie hat sich elfmal bis aufs Blut auf die Zunge gebissen.«
Annabel sackte in ihrem Sessel zusammen.
»Der Mörder hat die Dinge zum Schluss hin beschleunigt, er hat sie mit bloßen Händen von hinten erdrosselt, trotzdem gab es keine Fingerabdrücke. Der Körper ist gereinigt worden, und ohnehin sind sie auf der Haut nur schlecht und auch nicht lange festzustellen. Es gibt viele Kratzer und Hautabschürfungen, die Nägel sind irgendwo abgerutscht. Aufgrund der Verletzungen der Luftröhre, der Nagelspuren und der Form der Ekchymosen kann ich Ihnen zweierlei sagen: Erstens ist der Mörder nicht sehr kräftig, und es hat lange gedauert, bis das Opfer wirklich tot war.«
»Und zweitens?«
»Er hat sehr kleine Hände. Kinderhände.«
Annabel verschlug es die Sprache. Was hatte das nun wieder zu bedeuten?
»Das Opfer hatte schon ein wahres Martyrium durchgemacht, als es erwürgt wurde. Vermutlich hat es sich nicht zur Wehr gesetzt, was erklärt, dass er es mit geringem Kraftaufwand hat töten können. Nachdem er zuzudrücken begonnen hatte, hat es nicht länger als acht bis zehn Minuten gedauert, bis der Tod eintrat.«
Tod durch Erwürgen war für Annabel eine grauenvolle Vorstellung. Im Rahmen früherer Ermittlungen war sie mit dem Gerichtsmediziner die drei Phasen durchgegangen – ein Albtraum! Denn in diesem Fall tritt der Tod nicht schnell ein, das wäre zu schön – es dauert lange, sehr lange sogar.
Das Opfer setzt sich zur Wehr, der Angreifer lässt irgendwann los – entweder wegen der Gegenwehr oder weil er Krämpfe in den Händen hat und mit seinen schmerzenden Fingern nicht mehr ausreichend zudrücken kann. Also lockert er den Griff für einen Moment, und es gelangt wieder Luft in die Lunge, was die Agonie nur verlängert. Die erste Phase des Erwürgens führt zu heftigen Schweißausbrüchen und Schwindelgefühlen, die sehr schnell, das heißt, bereits nach einer Minute, eintreten. Die zweite Phase setzt in den folgenden zwei Minuten ein: heftige Krämpfe, dann kommt es zu Petechien in den Augen, das heißt, vielen winzigen punktartigen Hautblutungen. Die dritte und längste Phase dauert
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