In Blut geschrieben
zwischen fünf Minuten und einer Viertelstunde, es kommt zu Erbrechen, Kot, Urin- und Samenabgang und Atemstillstand, das Herz schlägt zwar noch lange qualvolle Minuten, wird aber nicht mehr mit Sauerstoff versorgt. Die Brust über dem schlagenden Herzen hebt sich nicht mehr, bis dieses schließlich nicht mehr pumpt. Es ist vorbei …
Annabel wurde von heftigem Zittern ergriffen und musste sich zwingen, sich wieder auf die Stimme des Coroners zu konzentrieren.
»… klimabedingt.«
»Entschuldigen Sie, ich habe das Ende nicht verstanden, was sagten Sie gerade?«
»Dass es im Moment unmöglich ist, den genauen Todeszeitpunkt festzustellen. Die Tatsache, dass die Leiche der Kälte ausgesetzt war, kann die Schätzungen verfälschen. Wie auch immer, der Tod liegt nicht sehr lange zurück, vermutlich trat er gestern ein. Ich nehme an, dass sie nachmittags gefoltert und am frühen Abend ermordet wurde.«
Die Fotos, die er während der Autopsie aufgenommen habe, schloss Ed Foster, seien der Datei beigefügt, was Annabel nur wenig beruhigte.
Kinderhände.
War das möglich? Wie konnte der Mörder das Opfer bei der Entführung überwältigen, wenn er keine Kraft hatte? Bei diesem Fall gab es einfach zu viele Ungereimtheiten.
Anna druckte den Autopsiebericht aus und vertiefte sich in die Anmerkungen des Coroners, bis ihr der Kopf dröhnte. Auf dem Gang unterhielten sich Thayer und Cahill über die wohltuende Wirkung von Ruhepausen auf den Geist eines Detectives. Sie schloss die Akte, der sie die frisch ausgedruckten Blätter hinzugefügt hatte, und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Draußen war es inzwischen stockfinster. Es musste schon spät sein; sie gähnte. Annabel hatte den Eindruck, tagsüber gar nicht mehr zu leben, wie bei einem Vampir wurde ihr Leben von Sonnenuntergang und -aufgang bestimmt.
Sie erhob sich und zog ihre Bomberjacke an, fest entschlossen, gleich nach Hause zu gehen und den Abend vor dem Fernseher zu verbringen, zu allem anderen war sie zu müde.
Dann aber fiel ihr Blick erneut auf die Akte mit der Aufschrift AUTOPSIE LEICHE X. LARCHMONT 31-01-02.
Verdammt, es ist stärker als du, was?
Sie griff nach der Mappe. Sie würde die Unterlagen heute Abend noch einmal studieren.
Doch dann kam ihr eine bessere Idee. Nein, sie hatte sie schon aufmerksam durchgearbeitet, und über das hinaus, was Ed Foster ihr bereits am Telefon gesagt hatte, nichts Interessantes gefunden.
Ja, sie hatte eine viel bessere Idee.
23
Der Schnee unter ihren Sohlen knirschte bei jedem Schritt, bis sie schließlich vor dem Eingang des Cajo Mansion an der Atlantic Avenue angelangt war. Annabel betrat die Eingangshalle, die ganz im mexikanischen Stil gehalten war, hörte Folkloremusik und sah viele Grünpflanzen. Im Grunde war das, was sie vorhatte, eine ausgemachte Dummheit, denn sie musste damit rechnen, ihn vielleicht gar nicht anzutreffen. An der Rezeption teilte man ihr mit, dass der Gast die Suite 31 bewohne.
Wer hätte das gedacht! Der Herr leistet sich eine Suite …
Sie nahm den Fahrstuhl und klopfte an der Tür 31.
»Herein«, erklang eine gedämpfte Stimme. »Es ist offen.«
Annabel kam der Aufforderung nach, blieb aber wie angewurzelt auf der Schwelle stehen. Vor ihr erstreckte sich ein geräumiger, nur spärlich möblierter Salon, gefliest mit mexikanischen Kacheln, auf denen ein flauschig-dicker Teppich lag. An der großen Fensterfront befand sich ein Balkon aus weißem Stein, der in einen mit einer Glaskuppel überdachten Innenhof ragte. Dieser war von einer ganzen Kolonie von Kakteen bevölkert, die in jeder freien Nische standen oder in Töpfen an den Wänden hingen. Irgendwie erinnerte die Gestaltung der Suite an die Wohnung der jungen Frau, nur war hier alles viel großzügiger und exotischer.
»Bitte kommen Sie herein und schließen Sie die Tür«, sagte Brolin mit ruhiger Stimme. »Um ehrlich zu sein, mit Ihrem Besuch habe ich nicht gerechnet.«
Annabel sah sich um und entdeckte ihn auf einem schmiedeeisernen, mit weißen Kissen bedeckten Sofa. Brolin war barfuß und trug eine schwarze Leinenhose mit dazu passendem Hemd, dessen oberste Knöpfe geöffnet waren. In der Hand hielt er ein Weinglas. Sein frisch gewaschenes Haar war glatt nach hinten gekämmt, doch ein paar vorwitzige Strähnen hatten sich bereits gelöst und fielen ihm ins Gesicht, berührten seine Wangen und fast die Lippen. Hinter ihm an der Wand rankte sich das eiserne Gestänge des Sofas empor. Der Schein einer Stehlampe –
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