in China
war sie froh, daß es nichts mehr gab. Es war ein langer, anstrengender Tag, dachte sie, und Cyrus fehlt mir ... Esgeht aber nicht, daß ich Cyrus ständig vermisse, während ich durch China reise. Das ist schließlich keine Vergnügungstour. Eine schwierige Aufgabe wartet auf mich. Ich habe schon seit drei Tagen kein Yoga mehr gemacht. Daran könnte es liegen.
Sie hoben die Tafel auf und verließen das Restaurant über eine staubige Treppe. Das lebhafte Treiben draußen wogte ihnen entgegen. Mrs. Pollifax fühlte sich plötzlich wie neugeboren.
Begeistert ließ sie die vielfältigen Eindrücke auf sich wirken. Die breite Straße wimmelte von Leuten und Fahrrädern. Kinder blieben stehen, starrten die Touristen mit großen erstaunten Augen an und lächelten zaghaft. Auf der einen Straßenseite Verkaufsstände, in denen sich Hemden, Plastiksandalen, Bananen, Sonnenblumenkerne oder Nüsse zu Bergen türmten. Eine Frau saß mit ihrem Kind auf dem Schoß neben einem winzig kleinen Tischchen in der Hoffnung, ein paar Flaschen grell orangefarbener Limonade zu verkaufen. Auf der anderen Straßenseite duckten sich kleine Hütten hoch oben auf dem Dach eines langgestreckten steinernen Gebäudes, von dem die Farbe abblätterte. Auf Fenstersimsen standen
Topfpflanzen in Reih und Glied, Hängepflanzen ergossen sich von den Behausungen auf den Dächern und reichten oft bis dicht über die Straße. Mrs. Pollifax fielen die gedämpften Farben auf. Natürlich machten die Blumen da eine Ausnahme, und hin und wieder leuchtete ein rotes Hemd auf. Auch alle Geräusche klangen gedämpft. Das ständige Läuten der Fahrradklingeln war nur ein sanftes Zirpen. Autos waren nicht zu sehen. Füße schlurften in alle Richtungen. Es wurde langsam dunkel. Die Hitze des Tages war einer angenehmen Temperatur gewichen. Tausend Düfte hingen in der Luft. Es roch nach würzigen Speisen. So habe ich mir China vorgestellt, dachte Mrs. Pollifax. Wie trunken vor Freude ließ sie ihre Blicke schweifen und sog die Düfte in sich ein. Sie stieg nur ungern wieder in den Minibus.
Diesmal setzte sich Malcolm Styles neben sie. Als er sich vorbeugte, um seinen kleinen Reisekoffer unter den Sitz zu schieben, fiel ihm ein Notizbuch aus der Tasche und landete auf ihrem Schoß. Sie nahm es auf und gab es ihm zurück. Doch ein einzelnes Blatt löste sich daraus und verklemmte sich in einem Fensterspalt. Sie nahm es an sich, warf einen Blick darauf und war entzückt: »Aber das ist ja ganz allerliebst!« Es war eine Federzeichnung. Er hatte ein chinesisches Kind skizziert - mit ganz wenigen raschen Strichen, doch so reizend und so gut getroffen, daß sie hingerissen war. Das Feine und Lebendige dieser Skizze war kaum zu übertreffen. Bewundernd sah sie Malcolm an. »Sie sind ja ein Künstler!«
Er lächelte bekümmert und zog die dichten Augenbrauen ablehnend zusammen. »Etwas
Ähnliches vielleicht.«
»Nur keine falsche Bescheidenheit«, ermahnte sie ihn streng. »Und was fangen Sie mit der Begabung an?«
Ein Lächeln trat in seine Augen. »Ich bin ganz und gar nicht bescheiden«, behauptete er.
»Das kann wirklich niemand von mir behaupten. Mir ist nur immer ziemlich unbehaglich zumute, wenn die Leute erfahren, daß ich die Bücher über Tiny Tot geschrieben und illustriert habe, daß ich der Autor der Doktor Styles Bilderbücher bin und...«
»Die Bücher über Doktor Styles!« rief sie freudig erregt. »Großer Gott, mein Enkel ist ganz vernarrt in diese Bücher. Zu Weihnachten habe ich ihm eins geschenkt und... aber das bedeutet ja, daß Sie Der Junge auf dem Regenbogen auch geschrieben haben.«
Er nickte. »Ja, ganz richtig.«
Sie starrte ihn fassungslos an. »Und ich habe geglaubt, Sie sind Schauspieler oder mit Leib und Seele Geschäftsmann. Vielleicht auch ein männliches Fotomodell. Sie wissen schon, so ein distinguierter Herr, der nur den allerbesten Sherry trinkt oder neben einem Rolls-Royce steht, eine Bruyèrepfeife schmaucht und blasiert ins Leere starrt.«
»Mit einem Diplomatenkoffer?« erkundigte er sich interessiert.
»An einen Diplomatenkoffer angekettet«, erläuterte sie.
Er nickte. »Dann begreifen Sie wohl, was es für die Leute für ein Schock ist, festzustellen, daß ich in einer Welt lebe, die von sprechenden Kaninchen und Mäusen bevölkert ist, die kleine Jungen retten.«
»O ja«, pflichtete sie ihm bei. »Das ist gewiß ein Schock.«
»Ist es«, versicherte er ihr. »Meistens ziehen sie sich instinktiv in sich selbst
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