in China
einmal wurde sie aus ihrer Apathie gerissen. Die Zeitverschiebung machte ihr immer noch zu schaffen. Wider Erwarten blieb ihnen eine halbe Stunde Zeit, und Mr. Tung erbot sich, mit ihnen einen Spaziergang durch eine Gegend zu machen, in der es ältere Gebäude und auch nagelneue Häuser gab, die erst im Rohbau fertig waren. Überall noch Baugerüste.
Doch auf einmal starrte Mrs. Pollifax wie gebannt auf ein schneeweißes Gebäude, das gegen die trostlosen angrenzenden Häuser frappierend abstach. Ein Haus im Kolonialstil der Tropen, so hätte sie es ausgedrückt. Zierliche Rundbogenfenster, jedes einzelne mit zartem Grün eingefaßt. Wie Juwelen setzten sie sich von der strahlend weißen Hauswand ab. Neben einer grünen Tür, die offenstand, hing ein vertikales Schild. Mrs. Pollifax nahm ihre kleine Kamera aus der Tasche und fotografierte, was ihr so gut gefiel: den Hof, die Tür, den dichtbelaubten Baum und den Eselskarren vor dem Nachbarhaus.
»Was steht denn auf dem Schild?« fragte sie Mr. Tung.
Er trat neben sie und las: »Volkssicherheitsbüro.« Er wandte sich abrupt ab. Sein Gesicht war ausdruckslos. Sicherheitsbüro - Sepos, fiel ihr wieder ein. Sie hatte darüber gelesen. Es hätte sie brennend interessiert, ob die Sepos auch nach Maos Tod noch um Mitternacht an die Türen klopften und die Menschen einfach mitnahmen oder ob sich das dank des neuen Systems inzwischen geändert hatte. Hoffentlich! Bishop hatte ihr erklärt: »Sie werden sehen, daß sich in China so manches geändert hat, doch das geht schrittchenweise - fast unmerklich vor sich.« Sie hielt sich noch ein Weilchen in der Nähe des Gebäudes auf, starrte durch die offene Tür in den Hof und versuchte sich vorzustellen, was sich hinter dieser ansprechenden Fassade tat. Dann wandte sie sich ab und eilte weiter. Ein ungutes Gefühl hatte sich ihrer bemächtigt.
»Was hat er gesagt? Was ist das für ein Gebäude?« erkundigte sich George Westrum bei ihr, sobald er sie eingeholt hatte.
»Der Staatssicherheitsdienst.«
»Ach so, die Polente. - Haben Sie gewußt, daß Malcolm Kinderbücher schreibt?«
Die Art, wie er das sagte, hätte Malcolm höchstens ein müdes Lächeln entlockt. »Ja, und zwar wunderschöne«, sagte sie.
»Vielleicht haben Ihre Kinder... sind Sie verheiratet, George?«
Er schüttelte den Kopf. »Habe keine Kinder, bin schon seit Jahren Witwer. Können Sie mir vielleicht verraten, warum ein Mann Kinderbücher schreibt? Er ist wohl selbst noch nicht erwachsen.«
George Westrum hatte seine Baseballmütze wie ein kleiner Junge in den Nacken geschoben.
Mrs. Pollifax fragte ihn lächelnd: »Glauben Sie, daß Sie schon ganz erwachsen sind - oder aber ich? Ist das überhaupt erstrebenswert? Ich glaube kaum.«
Doch George Westrum hörte schon gar nicht mehr zu. Er sagte unvermittelt: »Da vorn geht Iris Damson. Sie weiß wahrscheinlich gar nicht, daß es Zeit wird, zum Bus zurückzukehren.
Entschuldigen Sie mich bitte. Ich laufe rasch mal zu ihr und sage ihr Bescheid.«
Sie sah ihn davoneilen. Er überholte Joe Forbes, der Arbeiter beim Zementmischen
beobachtete und seine Kamera zückte. Er lief an Peter und Jenny vorbei, die sich gegenseitig knipsten, und schließlich an Malcolm, der sich bemühte, spielende Kinder vor die Linse zu bekommen. Sie lächelte bei dem Gedanken, daß George Westrum schon regelrecht süchtig nach Iris Damson war.
Sie erreichten den Flughafen am späten Nachmittag. Dort verabschiedete sich Mr. Tung, der Vertreter des Staatlichen Reisebüros für Kanton, von ihnen. Im Flugzeug gab es keine reservierten Plätze, nicht einmal für Ausländer. Sobald ihr Flug aufgerufen wurde, setzte ein wilder Sturm auf die Maschine ein. Die Gruppe wurde auseinandergerissen und saß dann in der zweimotorigen Propellermaschine überall verstreut. Mrs. Pollifax fand einen Platz am Mittelgang. Neben ihr zwei Männer in Mao-Anzügen. Da sie jetzt ein wenig China
kennengelernt hatte, fand sie es langsam an der Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie es in dem Frisiersalon in der Nähe des Trommelturms in Xian an den Genossen Guo Musu herankommen sollte. Doch ihr kam keine Erleuchtung. Sie hatte keine Ahnung, was ein Trommelturm war, und selbst unter Aufbietung all ihrer Fantasie konnte sie sich nicht vorstellen, wie sie den Friseurladen überhaupt finden sollte. Der sah in China wahrscheinlich ganz anders aus als in den Vereinigten Staaten. Es bereitete ihr auch Kopfzerbrechen, daß bei dieser Tour alle
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