in China
nirgendwo gesehen hatte. Sie ging langsam durch diese etwas breitere Straße, nickte den Passanten lächelnd zu und versuchte zu ignorieren, wie viele Menschen vor die Türen traten, um ihr nachzublicken. Sie wurde immer gereizter, weil sie überall Furore machte. Sie kam an einer kleinen Fahrrad-Reparaturwerkstatt vorbei, dann an einem Stand mit einer alten Nähmaschine. Ein Straßenhändler bot dampfend heiße Nudeln an. Und dann kam sie wider Erwarten doch noch an einem Friseur vorbei. Sie mußte an sich halten, um nicht allzu auffällig in den Laden zu starren. Ihr fielen die morschen bröckelnden Luftziegel der Außenmauer ins Auge, die sich fast überga ngslos in die Lehmmauer einfügte. Auch die staubige Fensterscheibe fiel ihr auf. Die Ladentür stand offen. Der Laden war schlecht beleuchtet. Trotzdem erkannte sie drinnen eine ganze Reihe von Männern.
Da ist ja ein Friseur, dachte Mrs. Pollifax, aber nicht da, wo ich ihn vermutet hätte. Auch Carstairs und Bishop haben geglaubt, daß er ganz woanders liegt. Sie ging an dem
Haarschneidesalon vorbei, warf einen neugierigen Blick in einen Laden, in dem Frauen an einer langen Werkbank saßen und arbeiteten, und mußte schließlich feststellen, daß diese Gasse nirgendwohin führte und dies der einzige Friseur weit und breit war. Da blieb sie stehen. Sie dachte: »Und wenn der Friseur da drin nicht Guo Musu ist? Aber deshalb ist Carstairs ja auf mich verfallen - weil ich mich bei Verhören durch die Polizei immer glänzend bewährte.« Sie war indigniert und weder auf Carstairs noch auf Bishop gut zu sprechen. Sie hatten beide keine Ahnung, was für Menschenmassen sich in China tagsüber durch die Straßen wälzten. Nie war man allein, nirgendwo hatte man seine Ruhe.
Auch in den Läden wimmelte es von Leuten, so zum Beispiel beim Friseur. Wahrscheinlich hatten sie zu Hause nicht bedacht, was eine amerikanische Touristin inmitten der Chinesen für Aufsehen erregte, wenn sie um eine Auskunft bat. Es war eine Wahnsinnsidee und möglicherweise sogar reiner Selbstmord; aber es blieb ihr gar nichts anderes übrig, als den Laden zu betreten.
Entschlossen wandte sie sich um, bis sie vor dem Friseur stand. An der rückwärtigen Wand saß etwa ein Dutzend Männer. Sobald sie den Laden betrat, ruhten alle Augen auf ihr. Ohne sich an einen bestimmten zu wenden, rief sie einfach ins Blaue hinein: »Spricht vielleicht einer von Ihnen Englisch?« Der Friseur fuhr mit der Haarschneidemaschine sorgsam um das eine Ohr seines Kunden herum. Er blickte nicht einmal auf. Ihr Mut sank, als er gar nicht reagierte. Sie wiederholte ihre Frage: »Spricht vielleicht irgend jemand...« Da hob der Friseur den Kopf und sah sie an. »Ich spreche ein wenig Englisch.« Er war ein kränklich wirkender unscheinbarer Mann mit ausdruckslosem Gesicht. »Da bin ich aber froh«, sagte sie
enthusiastisch, obwohl ihr gar nicht danach zumute war. »Ich habe mich leider verlaufen.
Würden Sie wohl so nett sein, zur Tür zu kommen und mir den Weg zum Trommelturm
zeigen?«
Der Mann sprach mit seinen Landsleuten chinesisch. Sie nickten und lächelten so übereifrig, daß sie schon befürchtete, sie könnten alle aufspringen, um ihr den Weg zu zeigen. Doch der Friseur hatte sein Handwerkszeug weggelegt und begleitete sie zur Tür, während seine Kunden sitzen blieben.
»Kommen Sie doch bitte mit hinaus«, flüsterte sie ihm zu. »Sind Sie Guo Musu?«
Er erstarrte. »Wie kommt es«, stammelte er, »daß Sie meinen Namen wissen?«
In dem engen Gäßchen beziehungsweise Durchgang waren sie sofort von einem Pulk
Neugieriger umringt. Auch die Männer, die darauf warteten, daß er ihnen die Haare schnitt, wandten keinen Blick von ihnen. Sie befanden sich zwar nicht mehr in Hörweite, doch sie wußte, daß sie vorsichtig sein und diesen Mann schützen mußte, ob er ihr nun half oder nicht.
Sie fragte ihn: »Wo geht's zum Trommelturm?« Ganz automatisch wies er in die Richtung, die sie eingeschlagen hatte. Sie hoffte nur, daß seine Geste überzeugend wirkte und er ihr den richtigen Weg gewiesen hatte. Es würde nicht leicht sein, sich an die Gesten zu erinnern, wenn sie gleichzeitig sprach. Und auch er würde sich ganz auf das konzentrieren müssen, was sie ihm zu sagen hatte. »Es bleibt uns nicht viel Zeit«, sprudelte sie hervor. »Ihr Bruder Chang ist sicher in Hongkong angelangt. Von ihm wissen wir, daß Sie uns sagen können, wo sich das Lager befindet, in dem Sie drei Jahre waren. Das Arbeitslager
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