in China
sich schrecklich einsam und saß in der Verbannung wie ein Geächteter. Er hielt das nur drei Jahre aus, dann ist er weggelaufen. Dafür ist er eingesperrt worden - shouliu nennt sich das - und dann wurde er in eine Kommune in der Nähe von Urumchi versetzt, wo Arbeiter für den Straßenbau gebraucht wurden. Da hat er sich noch mehr zuschulden kommen lassen - tan, das heißt, es existiert ein ganzes Dossier über ihn.
Kurz gesagt, es war ihm unmöglich, sich zu fügen und sich anzupassen.«
»Das hätte ich wohl auch nicht gekonnt«, murmelte Mrs. Pollifax nachdenklich. »Aber wovon lebt er eigentlich?«
Peter erklärte ihr seelenruhig: »Er stiehlt. Manchmal bekommt er auch etwas zu essen geschenkt oder er darf irgendwo mitessen. Einmal hat er eine ganze Wagenladung Melonen gestohlen und sie auf dem Basar verkauft. Von dem Geld, das er dabei einnahm, hat er Kürbiskerne und Nüsse gekauft und wieder verkauft, dann Gläser mit Honig...«
»Hört sich ganz nach einem vielversprechenden Geschäftsmann an«, sagte Mrs. Pollifax lächelnd.
»Er hat sich sogar das Geld für ein Fahrrad der Marke ›fliegende Taube‹ zusammengespart.
Aber da er nirgendwo hingehört und auch keine Coupons hatte, mußte er versuchen, so ein Fahrrad - es soll eins der besten sein - auf dem schwarzen Markt zu erstehen. Der Händler hat sein Geld genommen, ihm aber kein Fahrrad dafür gegeben. Seitdem hat er eine solche Wut im Bauch, daß er ständig Ärger kriegt. Er schläft zuviel und hat sich wieder aufs Stehlen verlegt.«
Mrs. Pollifax sagte ganz impulsiv: »Aber er ist doch ein ganz empfindsamer Mensch. Sehen Sie sich doch nur einmal seine Augen an. Er sollte wirklich kein Ausgestoßener sein und nicht in der Verbannung leben müssen.«
Peter berichtete: »Ich habe ihm erklärt, daß China sich jetzt wandelt, seitdem Mao tot ist, und daß die Fehler, die begangen worden sind, jetzt berichtigt werden. Wenn er noch eine Weile wartet...«
»Und was meint er dazu?«
»Er hat mich gefragt, wie er von diesem Wandel profitieren soll. Alles ändert sich nur langsam und so weit von Peking entfernt erst recht. Er sagt, daß es niemanden gibt, der sein Fürsprecher sein und ein gutes Wort für ihn einlegen könnte. Er läßt sich nirgends mehr blicken, ist praktisch untergetaucht. Niemand legt auch nur den geringsten Wert auf ihn.«
Peter schüttelte den Kopf. »Einem wie ihm können wir auf gar keinen Fall Ausweispapiere verkaufen. Bei allem was er auf dem Kerbholz hat ist wohl kaum anzunehmen, daß man ihm trauen kann. Das wäre zu riskant.«
Mrs. Pollifax sah Sheng an. Ihr war etwas eingefallen, was sie für eine glänzende Idee hielt.
Er hielt ihrem Blick stand. Seine dunklen Augen sprühten Zornesblitze. »Ich bettle nicht«, sagte er und schob das Kinn vor.
»Was würden Sie denn anfangen, wenn es Ihnen gelänge, aus China herauszukommen?«
fragte sie ihn liebenswürdig.
»Zur Schule gehen. Mir eine Arbeit suchen«, knurrte er.
Sie nickte und wandte sich an Peter. »Na?«
»Was heißt hier ›na‹?« fragte er entrüstet. »Wie schon gesagt - wenn man bedenkt, was er schon alles hinter sich hat und wie er lebt, erscheint er mir nicht gerade vertrauenserweckend.
Er würde uns vielleicht in die Pfanne hauen. Er würde garantiert erwischt und dann alles ausplaudern.«
»Das könnte er aber nicht, wenn er das Land zusammen mit Wang und Ihnen verließe«, konstatierte sie.
»Wenn er was?«
Sie sagte langsam und bedächtig: »Es stimmt natürlich, daß Sie zu dritt wären, wenn er mit Ihnen ginge, und es stimmt auch, daß ma n sich zu dritt im Flachland nicht so leicht verstecken kann, doch gerade darin ist er ja ein Meister, vergessen Sie das nicht.« Und wenn es brenzlig wird, dachte sie bei sich, können sich drei Männer besser zur Wehr setzen als zwei.
»Wenn man Sie so reden hört, könnte man wirklich den Verstand verlieren«, meinte Peter grinsend.
Sie zog es vor, diese Bemerkung zu ignorieren. »Und in den Bergen wird X vielleicht Hilfe brauchen. Er ist sicher nicht so kräftig wie Sie. Da könnte sich Sheng als sehr nützlich erweisen, und was kann er schon anstellen oder ausplaudern, wenn er die ganze Zeit bei Ihnen ist? Ich bin sogar fest davon überzeugt, daß man sich auf ihn verlassen kann, wenn man ihm hilft, aus China herauszukommen.«
Sheng sah sie eindringlich an. Sie spürte, unter welcher Anspannung er stand, seit er begriffen hatte, wovon die Rede war. Sein Atem ging rascher. Er wartete geduldig. Eine
Weitere Kostenlose Bücher