in China
Stille der Nacht kaum ins Gewicht. Als sie zu der Straßenecke bei der Mauer um das Gästehaus kamen, trat Sheng Ti ganz plötzlich aus dem Schatten. Er kam auf sie zu, legte den Finger auf die Lippen, um ihnen Schweigen zu gebieten. Dann sprach er leise auf Peter ein.
Es dauerte eine Weile, bis Mrs. Pollifax begriff, daß Sheng Ti chinesisch mit Peter sprach.
Erschrocken fragte sie: »Was soll denn das? Warum spricht er...«
»Er hat gehört, wie ich dem verdammten Radfahrer einen chinesischen Gruß zugerufen habe«, grollte Peter und stieß einen Fluch aus. »Also, Sheng, was ist denn los?«
Sheng machte sich gar nicht erst die Mühe, englisch zu sprechen. Er war völlig außer Atem und im höchsten Maß erregt. Er gestikulierte heftig und sprudelte los.
Peter wandte sich Mrs. Pollifax zu, nachdem er den Chinesen angehört hatte. »Woher haben Sie das gewußt?«
»Was gewußt?«
»Sheng hat gesagt, daß uns jemand aus dem Gästehaus zu Fuß gefolgt ist. Klammheimlich und ganz leise. Als Sheng das sah, ist er dem geheimnisvollen Verfolger gefolgt, wer auch immer das gewesen sein mag. Also ist er uns allen in die Wüste nachgegangen.«
11. Kapitel
Angesichts dieser Enthüllungen schnappte Mrs. Pollifax erst mal nach Luft. »Ob uns wohl einer der Reiseleiter gefolgt ist?«
Peter wandte sich wieder an Sheng. »Nein, nein. Sheng sagt, daß es kein Chinese war, da ist er sich ganz sicher. Er sagt, daß der Verfolger eine Art Umhang getragen hat. Es kann also sowohl ein Mann als auch eine Frau gewesen sein; aber er ist sich ganz sicher, daß es ein Ausländer war - unbedingt. Das schließt er aus der Art, wie sich dieser Mensch verhalten und bewegt hat.«
Mrs. Pollifax hielt die Luft an. Sie mußte wieder daran denken, daß ihr Koffer durchsucht worden war. Jetzt mußte sie sich eingestehen, daß sie so etwas schon immer befürchtet hatte.
Irgend etwas stimmte da nicht. Sie saßen in der Tinte.
Sie vertraute auf Shengs Urteilsvermögen. Seine Gerissenheit imponierte ihr. Das hatte ihn sicher die Straße gelehrt. »Wo steckt denn der Verfolger jetzt?« erkundigte sie sich.
»Wieder im Gästehaus.«
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit Sheng Ti zu; denn ihr war klar, daß ihre erste Sorge ihm zu gelten hatte. »Was hält er wohl von alledem? Ob er wohl schon einen Verdacht hat?« fragte sie Peter. »Will er vielleicht Schweigegeld? Damit wir sicher sein können, daß er mit niemandem darüber spricht?«
Peter nahm Sheng auf chinesisch ins Gebet. »Er sagt, er möchte mit uns allein irgendwo darüber sprechen, warum wir Gepäck aus der Stadt hinausbefördert haben und ohne das Gepäck zurückgekommen sind. Er glaubt, daß niemand außer ihm gesehen hat, daß wir Gepäck bei uns hatten. Das ist ja immerhin tröstlich, wenn man es recht bedenkt. Er wüßte auch gern, warum ich ein Geheimnis daraus gemacht habe, daß ich so gut chinesisch spreche, warum Ihnen plötzlich zwei Schneidezähne fehlen und warum Sie sich als Chinesin
verkleidet haben.«
»Also gut«, sagte Mrs. Pollifax. »Wohin sollen wir denn gehen, damit uns nie mand belauscht?«
»Da brauchen wir nicht weit zu gehen«, versicherte ihr Peter. »Ob wir Sheng wohl trauen können?«
»Das werden wir wohl müssen. Er hat uns in der Hand«, sagte sie trocken. Sie überprüfte den ersten Eindruck noch einmal, den sie von Sheng gehabt hatte und erklärte: »Doch, ich glaube schon, daß wir ihm vertrauen können. Jedenfalls habe ich den braunen Gürtel in Karate. Das kann bestimmt nicht schaden.«
Peter lachte. »Das habe ich mir fast gedacht. Bei Ihnen wundert mich nichts mehr. Also, Sheng sagt, wir sollen aussteigen und laufen.«
Sie zermarterte sich den Kopf, um eine Erklärung dafür zu finden, daß ihnen jemand gefolgt war. Esgibt doch niemanden - wirklich niemanden - der von Wang etwas wissen oder an ihm interessiert sein kann, dachte sie. Doch dann erinnerte sie sich. Außer den Russen, dachte sie entsetzt.
Carstairs hatte gesagt: »Einer unserer Agenten, der für die Sowjets arbeitet -
selbstverständlich ein Doppelagent - hat uns darüber informiert, daß X existiert und daß die Sowjets sehr an ihm interessiert sind.«
Hatte sie über X informiert...
Diese Informationen stammten ausschließlich von den Russen, die selbst den allergrößten Wert darauf legten, Wangs habhaft zu werden... Die Russen, die angeblich Pläne hatten, Wang im Spätsommer zu entführen...
Angeblich...
Aber da sie ja wußten, daß sie in China persona non grata, also
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