in China
sind, und ich bin ganz sicher, daß nun keiner mehr Wert darauf legt, die Reise fortzusetzen. Wann können wir ausreisen? Als Sprecherin und Leiterin der Gruppe möchte ich betonen, daß mehrere meiner Reisegefährten krank geworden sind und daß wir alle völlig verstört sind...« Wenn irgend etwas Unvorhergesehenes geschieht, sorgen Sie dafür, daß die Reisegruppe das Land auf dem schnellsten Wege verläßt, hatte ihr Carstairs ans Herz gelegt. Sie sah Mr. Pi herausfordernd an.
Er entgegnete ruhig: »Sie werden selbstverständlich alle hierbleiben, bis der Leichnam von Mr. Fox gefunden worden ist.«
Sie zuckte die Achseln, um sich nicht anmerken zu lassen, wie bestürzt sie war. »Das wird doch hoffentlich bald sein, nicht wahr?«
Er sagte völlig unbewegt: »Aber selbstverständlich. Ich habe heute keine Fragen mehr an Sie, Mrs. Pollifax. Doch morgen muß ich Sie natürlich weiter verhören.«
»Natürlich«, wiederholte sie. Als sie aufstand, war sie wirklich einer Ohnmacht nahe. Sie schnappte nach Luft, rief sich zur Ordnung und dachte: Was nutzt es schon, sich aufzuregen?
Dann sank sie bewußtlos zu Boden.
Es wurde schon langsam dämmrig als Mrs. Pollifax in der grauen Shanghai-Limousine mit Gardinchen zum Hotel zurückgefahren wurde. Neben ihr saß Mr. Li. Er hüllte sich in Schweigen. Was war in den letzten Stunden alles über sie hereingebrochen: seit sie das Hotel zuletzt betreten hatte, war sie zur Mörderin geworden, hatte Peter in der unwegsamen Wildnis untertauchen sehen, wo er sein Leben aufs Spiel setzte. Ein Pferd war mit ihr durchgegangen, sie hatte sich das Handgelenk gebrochen. Sie war im Krankenhaus behandelt worden und hatte ihr erstes Verhör in China hinter sich gebracht. Da war es doch wohl nicht weiter verwunderlich, daß sie sich nur noch nach einer dunklen Ecke sehnte, wo sie sich ausweinen konnte.
Weinen allein genügte wohl nicht, am liebsten würde sie laut schreien. Aber schreien durfte sie natürlich nicht.
Sie wünschte Mr. Li eine gute Nacht und betrat allein die leere Halle. Sie kam am Souvenirstand vorbei, bog in den langen Gang ein und betrat ihr Zimmer. Sie knipste das Licht an. Dann stand sie einfach da und wartete darauf, daß ihr die Tränen kamen oder sich ihr wenigstens ein Schluchzen entrang. Doch nichts dergleichen geschah. Das setzte sie sich auf ihr Bett, starrte mit leerem Blick auf ihren eingegipsten Arm und dachte an Peter. Es klopfte leise. Sie hob den Kopf und nahm sich vor, sich einfach nicht zu melden. Doch dann rief sie: »Einen Augenblick«, und nach einer Weile »Herein.«
Iris kam auf Zehenspitzen mit einem Tablett herein. »Ich habe Sie kommen gehört. Ich habe wieder das Zimmer gleich nebenan. Ich bringe Ihnen eine Tablette.«
Mrs. Pollifax schüttelte den Kopf. »Ich brauche keine Tabletten.«
»Aber das ist eine Kodeintablette«, versicherte ihr Iris. »Mein Arzt zu Hause hat mich nämlich für jeden erdenklichen Notfall mit Tabletten eingedeckt, die gute Seele. Und so empfindsam! Er hat darauf bestanden, daß ich auch Schmerztabletten
mitnehme, falls ich mir, meilenweit vom nächsten Krankenhaus entfernt, ein Bein breche. Sie werden die Tablette schon bald brauchen, wissen Sie? Ihr Arm wird heute nacht sehr weh tun.«
»Er tut jetzt schon weh«, gab Mr. Pollifax zu. »Wie verkraften denn die anderen das alles?«
»Ach, was kümmern mich die anderen!« meinte Iris fröhlich. »Aber um Sie mache ich mir wirklich Sorgen, seitdem die Kasachen Sie zurückgebracht haben. Sie sehen aus, als ob Sie bald zusammenklappen, wenn Sie sich nicht vorsehen. Ich habe auch Brandy mitgebracht, und ich finde, nach dem Brandy sollten Sie die Kodeintablette mit einer Tasse Tee hinunterspülen. Diesen guten Rat gibt Ihnen Dr. Damson. Ich weiß ja nicht, wie lange Sie das schon machen...«
Mrs. Pollifax erstarrte. Blieb ihr denn gar nichts erspart? »Wie lange ich was schon mache?«
Iris reichte ihr ein Glas. »Halten Sie das mal, während ich den Tee ziehen lasse.« Sie tat plötzlich sehr geschäftig. Sie goß heißes Wasser aus sterilisierten Thermoskannen in die Tassen, fuhr mit den Händen unter dem Tisch entlang, verschwand ein paar Minuten im Bad und kam mit einem zweiten Glas wieder heraus. Sie untersuchte die Vorhänge, bevor sie sie zuzog und knipste die Tischlampe an. Sie sah in den Lampenschirm und dahinter, sah unter den Stuhl und das Bett und goß schließlich Brandy in beide Gläser. »Mir wird ein bißchen Brandy auch nicht schaden«,
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