In dein Herz geschrieben
ihren Betten und schlafen.«
Ja, klar, dachte Cassandra. Wahrscheinlich schwimmen sie dir in diesem Moment zwischen den Beinen herum. Sie hatte den Weißen Hai oft genug gesehen. Manche waren ihm auch bei Nacht zum Opfer gefallen. Sie sah zuerst nach rechts, dann nach links. Der Strand war verwaist, dunkel und verlassen. Niemand war um diese Uhrzeit hier draußen, höchstens jemand, der nichts Gutes im Schilde führte, und sie - schwammen hier herum, splitternackt und hilflos. Vielleicht sollte sie lieber hier stehen bleiben und aufpassen.
Aufpassen . Das Wort flammte wie ein Feuerwerkskörper in ihrem Kopf auf. Oh, nein. Sie hatte sich selbst das Versprechen gegeben, nicht mehr an der Seitenlinie zu stehen und bei allem nur zuzugucken. Ehe sie sich’s versah, hatte sie ihre Shorts abgestreift und sich von den Füßen getreten, dann folgte ihr T-Shirt und schließlich ihr BH. Einen Moment lang stand sie mit vor der Brust gekreuzten Armen da. Schon jetzt fühlte sie sich nicht mehr ganz so klebrig und verschwitzt, doch gleichzeitig hatte sie den Verdacht, dass sie gleich hyperventilieren würde. Sie zitterte am ganzen Leib. Atme, beschwor sie sich, atme. Sie ließ sich vom leisen Schwappen der Wellen und den gedämpften Stimmen von Annie Laurie und May beruhigen. Mit geschlossenen Augen senkte sie zuerst einen Arm, dann den zweiten. Ihr Kinn hob sich, und sie ließ den Atem entweichen, den sie angehalten hatte, ehe sie den Kopf in den Nacken legte und einige tiefe, gleichmäßige Atemzüge nahm. Meine Schutzschilder sind runtergelassen, dachte sie. Nicht einmal meine Kleider sind noch da, hinter
denen ich mich verstecken könnte. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Sie kam sich wie eine Närrin vor, eine splitternackte, fette, freie Närrin.
»Cassandra«, sagte Annie Laurie. »Komm rein.«
Mit einem letzten Blick über den Strand zog sie ihr Höschen runter und watete ins Wasser. May und Annie Laurie waren so weit hineingegangen, dass ihnen das Wasser bis zu den Schultern reichte, und tauchten immer wieder unter, damit ihre Köpfe nass wurden. Als das Wasser bis zu ihren Hüften ging, dann bis zur Taille und schließlich bis zur Brust, ließ die Schwerkraft nach, so dass alles zu schweben begann, besonders ihre Brüste. Sie ragten vor, keck und spitz, was sie, nun ja, seit einer halben Ewigkeit nicht mehr von ihnen behaupten konnte. Sie beugte die Knie und tauchte unter - eine Wohltat für ihr erhitztes Gesicht und ihren Kopf. »Siehst du?«, meinte May, als sie wieder auftauchte. »Außer uns Meerjungfrauen keiner hier.«
Genau, dachte Cassandra. Meerjungfrauen, Geschöpfe des Meeres. Wie Fische. Oder Schildkröten. So mussten sich Schildkröten fühlen, wenn sie nach dem Legen wieder ins Wasser kamen, das herrliche Gefühl der Schwerelosigkeit und der Freiheit, nachdem sie sich an Land so schwerfällig und ungelenk gefühlt hatten. Nackt wie am Tag ihrer Geburt, mit nichts zwischen ihrer Haut und dem Wasser, wurde sie zu einem Teil dieses gewaltigen, wunderschönen … ja, was? Sie hatte noch nicht einmal einen Namen dafür.
»Hey.« Annie Laurie paddelte zu Cassandra und May hinüber. »Lasst uns etwas singen.«
»Was denn, Schatz?«, fragte May.
»Wie wär’s mit ›The Far Side Banks of Jordan‹?«
May fing an, und Cassandra und Annie Laurie fielen ein, doch als sie zum Refrain kamen, musste Cassandra innehalten. Dieses Lied war einer der Lieblingssongs ihrer Mutter gewesen, und sie hatten ihn bei ihrer Beerdigung gesungen.
Immer wenn sie ihn hörte, wurde sie traurig, fühlte sich jedoch aus irgendeinem Grund auch besser. »And when I see you coming, I will rise up with a shout and come running through the shallow waters reaching for your hand.« War es tatsächlich erst anderthalb Jahre her? Manchmal hatte sie das Gefühl, als sei es erst gestern gewesen, manchmal aber auch wie eine ganze Ewigkeit. »Du wirst deine Mutter erst dann vermissen, wenn sie einmal nicht mehr da ist« - diesen Satz hatte sie ihr ganzes Leben immer wieder gehört. Er war ihr stets ein wenig albern vorgekommen. Natürlich konnte man einen anderen Menschen erst vermissen, wenn er fort war. Aber als ihre Mutter gestorben war, hatte sie begriffen, dass eine solche Untertreibung lediglich bewies, dass Worte einen so schweren Verlust nicht beschreiben konnten. Das Einzige, was diese Emotion auch nur annähernd ausdrücken konnte, war Musik.
Annie Laurie unterbrach sich und zeigte nach oben. »Habt ihr das gesehen?
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