In dein Herz geschrieben
Gespenstergeschichten vorzulesen. »Was meinst du damit?«
»Sie ist ganz weiß angezogen, ihr Haar ist ganz weiß, und sie ist sehr dünn und blass. Und sie sieht immer so traurig aus, ein bisschen verloren. So wie in der Geschichte von dem Geistermädchen, das jedes Jahr an ihrem Geburtstag am Straßenrand auftaucht und darum bittet, mitgenommen zu werden.«
Eine traurige Gespensterlady. Schwer, das mit dem Bild der
Schildkrötenhasserin in Einklang zu bringen, als die May sie ihr beschrieben hatte. Cassandra konnte May nicht mehr sehen und trat einige Schritte vor. Sie fragte sich, ob sie lieber nach oben gehen und nach ihr sehen sollte.
Plötzlich hörte sie das Klirren von Glas, und ein Licht in der oberen Ecke des Hauses erlosch. Dann ein weiteres Klirren, noch eins und noch eines, sechs insgesamt, bis der Strand in Dunkelheit getaucht war. Annie Laurie trat an den Fuß der Düne und richtete den Lichtkegel der Taschenlampe auf die Treppe. May bewegte sich noch langsamer als beim Erklimmen der Stufen, hielt das Geländer fest umfasst, und Cassandra ging mit einem Mal auf, dass sie nicht Annie Oakley vor sich hatte, sondern eine übergewichtige Zweiundsiebzigjährige mit Diabetes. Sie ging May entgegen, nahm ihr die Waffe aus der Hand und hielt ihren Arm fest, bis sie unten waren. Wenn dies hier ein Verbrechen war, hatte sie sich gerade zur Komplizin gemacht. Als sie den Strand erreichten, fragte sie sich, ob sie weglaufen sollten, doch May ging seelenruhig über den festgebackenen Sand und pfiff leise eine Melodie. Mission erfüllt.
Etwa auf halbem Weg zum Pier hörten sie Sirenen und erstarrten. May hörte auf zu pfeifen, und alle drei lauschten. Die Sirenen kamen an ihnen vorbei, bewegten sich weiter in westliche Richtung. May grunzte und ging weiter, dicht gefolgt von Annie Laurie.
Cassandras Herz hämmerte. Gütiger Himmel, diese Frau hatte die Polizei gerufen. Es musste so sein, denn in dieser Richtung wohnte sonst niemand.
»Kommt, ihr beiden. Sie zieht nur eine Schau ab, sonst nichts«, sagte May, ohne sich umzudrehen.
Der Hinweg war ihr gar nicht so lang vorgekommen, wohingegen der Rückweg nicht enden wollte. Cassandra war schweißgebadet. Sie konnte es kaum erwarten, endlich nach Hause zu kommen, sich unter die kühle Dusche zu stellen, ins Bett zu steigen und zu beten, dass niemand jemals herausfand,
was sie angestellt hatten. Vandalen, genau das waren sie. Vandalen.
Als sie sich dem Pier näherten, blieben sie wieder stehen, um zu horchen. Keine Sirenen, nur das Wasser, das ans Ufer schwappte. Cassandra blickte zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. In ein paar Stunden würde die Flut einsetzen und ihre Fußspuren fortspülen, so dass niemand nachvollziehen konnte, dass sie da gewesen waren. Gott sei Dank. Eine Welle spülte um ihre Knöchel, angenehm kühl. »Ich sage euch etwas«, meinte sie. »Wäre es nicht dunkel, würde ich jetzt in dieses Wasser gehen, mit Klamotten und allem Drum und Dran.«
Sie erwiderten nichts, und als sie sich umdrehte, blieb ihr der Mund offen stehen. May und Annie Laurie mussten dieselbe Idee gehabt haben, denn sie begannen, sich aus ihren Sachen zu schälen. Und schälen war exakt die richtige Bezeichnung dafür, denn nach ihrem Strandmarsch klebte alles an ihnen, selbst ihre Haare. Es wäre herrlich, in dieses Wasser zu steigen und das klebrige Gefühl loszuwerden. Doch es war bereits nach Mitternacht und stockdunkel. Cassandra hatte es noch nie über sich gebracht, bei Nacht ins Meer zu gehen. Es war zu beängstigend, nicht sehen zu können, was vielleicht um sie herumschwamm.
»Was tut ihr da?« Sie sah sich um, doch es war zu dunkel, um festzustellen, ob jemand kam.
Cassandra sah lediglich Mays Bein weißlich schimmern, als sie ihre Shorts von sich schleuderte. »Wir gehen schwimmen, Schatz. Los, komm!«
Etwas Weißes kam angeflogen, dicht gefolgt von etwas Zweitem, dann verschmolz May mit der Dunkelheit und wurde unsichtbar. Cassandra hörte sie ins Wasser waten. Annie Laurie musste ihr gefolgt sein, denn sie hörte noch mehr Platschen. Es war zu dunkel, um mehr als die Hand vor Augen zu erkennen.
»Komm rein«, rief Annie Laurie, »es ist herrlich!«
Ihre weißen Gesichter schwebten wie Ballons auf der Wasseroberfläche. Das Meer war so glatt und ruhig. Wieso konnte es nicht bei Tag genauso sein, wenn sie schwimmen gehen wollte? »Was ist mit Haien?«, rief sie.
»Oh, die kommen nachts nicht raus«, meinte May. »Die liegen alle in
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