In dein Herz geschrieben
Osten
fort. »Irgendwo in Schottland, glaube ich. Ich vergesse den Namen ständig. Ihre Urgroßmutter hat immer Geschichten von dort erzählt, Geschichten von Geistern und Meerjungfrauen und versunkenen Schiffen. Das Meer fließt in unseren Adern, hat sie immer zu meiner Mutter gesagt, und ruft uns zurück, auch wenn wir noch so weit fortfahren. All das ist schon so lange her, und doch ist das Wasser immer noch ein Teil von uns, auch wenn nur noch wenige den Ruf des Meeres hören können.«
Im Dunkeln war Mays Stimme fast wie ein selbstständiges lebendiges Wesen, losgelöst von ihrem Körper, als wäre sie mit der nächtlichen Luft verschmolzen und dafür geschaffen, die Geschichten zu erzählen, die sich über die Generationen gehalten hatten. Cassandra malte sich aus, wie sie auf einer Insel aus Steinen statt aus Sand saßen, sich um ein Feuer versammelten und Geschichten aus der fernen Heimat lauschten. Geschichten von Cassandras Leuten. Von ihren und Mays Leuten.
»Au weia«, sagte Annie Laurie.
»Was?«, wollte Cassandra wissen. »Hast du etwas gespürt?«
»Nein, aber seht mal da.«
Lichtkegel von Taschenlampen näherten sich aus der Richtung des Piers, kamen direkt auf sie zu. »Oh je.« Cassandra tauchte tiefer ins Wasser, so dass es ihr bis unters Kinn reichte. »Was machen wir jetzt?«
»Shhh«, flüsterte May.
Minuten später verharrten die Lichter an der Stelle, wo sie ihre Kleider abgelegt hatten. »Annie Laurie?«, rief jemand.
Hector! Cassandra hörte die Panik in seiner Stimme und bekam augenblicklich ein schlechtes Gewissen.
»Daddy!«, rief Annie Laurie. »Komm nicht rein!«
»Wer ist bei dir?«
»May und Cassandra.«
»Ihr kommt sofort aus diesem Wasser heraus!«
Er klang wütend, und Cassandra konnte ihm keinen Vorwurf machen. Seine kleine Tochter badete mitten in der Nacht nackt im Meer mit zwei alten Frauen, die eigentlich klüger sein müssten.
»Wir können nicht, Daddy.«
»Wieso nicht?« Jemand kam näher und leuchtete mit der Taschenlampe den Sand ab. »Ich fasse es nicht«, hörten sie Hector sagen. Der Lichtkegel fiel auf die beiden Männer hinter ihm, und May schnappte nach Luft. »Bullen!«
»Was?«, sagten Cassandra und Annie Laurie wie aus einem Munde.
»Moment mal«, meinte Cassandra. Sie hatte gedacht, er hätte Chester und Skeeter bei sich, vielleicht auch Walton und Harry Jack. »Wieso hätte er die Polizei rufen sollen?«
»Nicht Hector.«
Nein? Wer dann?
»Mrs. Lundy«, erklärte Annie Laurie.
Oh Gott, dachte Cassandra, während Bilder von orangefarbenen Gefängnisoveralls und vergitterten Fenstern vor ihrem geistigen Auge aufflammten. Vandalismus und Erregung öffentlichen Ärgernisses. Vielleicht kamen sie alle hinter Gitter.
Männerstimmen drangen herüber, doch Cassandra konnte die Worte nicht verstehen. Die Polizisten machten sich auf den Weg zurück zum Pier, und Hectors Taschenlampe ging aus. »Ihr werdet sofort aus dem Wasser kommen und euch anziehen. Auf der Stelle«, dröhnte seine unheilschwangere Stimme durch die Dunkelheit.
»Tja«, meinte May, »wir sollten lieber tun, was er sagt.«
»Moment«, flüsterte Cassandra. »Sollten wir uns nicht zuerst überlegen, was wir genau sagen?«
»Unsere Geschichte ist plausibel«, erwiderte May laut.
»Shhh!« Cassandra spähte zum Strand hinüber. »Was sollen wir sagen? Über das, was heute Abend passiert ist.«
»Kommen wir ins Gefängnis?« Annie Lauries Stimme zitterte.
»Ach, Schatz.« May tätschelte ihren Arm. »Nur die Ruhe. Du bist noch zu jung, um ins Gefängnis zu kommen. Nur Cassandra und ich werden verhaftet. Und jetzt lasst uns an den Strand zurückgehen.« Wieder marschierte sie in heroischer John-Wayne-Manier voran und stieg aus dem Wasser, auch als die Schwerkraft allmählich wieder ihren Tribut forderte.
Cassandra wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Die Liste ihrer persönlichen Katastrophen wurde länger und länger. Sie tauchte ein letztes Mal unter, dann sah sie nach oben. Als sie noch klein war, hatte sie gedacht, jeder Stern am Himmel stünde für jemanden, der gestorben war, und diejenigen unmittelbar über ihr gehörten jenen Menschen, die sie kannte. Gemessen an der Zahl, die heute am Himmel stand, mussten sich Generationen eingefunden haben, um sich das Szenario anzusehen. Sieh dir das an, Mama, dachte sie. Dein kleines Mädchen planscht splitternackt herum und wandert gleich ins Gefängnis.
Für den Bruchteil einer Sekunde hätte sie schwören können,
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