In dein Herz geschrieben
Eine Sternschnuppe! Wir dürfen uns etwas wünschen!« Sie ballte ihre kleinen weißen Fäuste unterm Kinn, und Cassandra fragte sich, was sie sich wohl so inbrünstig wünschte.
»Wollt ihr wissen, was ich mir gewünscht habe?«, fragte May.
»Du darfst es nicht laut sagen, sonst geht der Wunsch nicht in Erfüllung!«
»Ach, Schätzchen, diesen Wunsch hatte ich schon so oft, dass es bestimmt nicht schadet, wenn ich ihn ausnahmsweise laut ausspreche.« May ließ den Kopf nach hinten sinken, als wäre das Wasser ein Kissen. »Ich wünschte, ich könnte nur ein einziges Mal sehen, wie eine dieser riesigen Schildkrötenmütter den Strand heraufkommt, um ihre Eier zu legen. Das wäre ein solches Wunder für mich.« Sie hielt inne. »Was ich mir in Wahrheit wünsche«, fuhr sie etwas leiser fort, als gebe sie ein Geheimnis preis, »ist, ich hätte es sehen können, bevor
die Menschen hierhergekommen sind. Zu einer Zeit, als keine Menschenseele hier am Strand war, kein Licht außer den Sternen, mit all den Mutterschildkröten, die zu dem Ort zurückschwimmen, an dem sie geboren wurden. Ohne Karten oder Richtungszeiger, sondern gelenkt von ihrem natürlichen Instinkt, der ihnen sagt, wohin sie schwimmen müssen. Dann sind sie da, und alles ist ruhig, keine Menschen, kein Verkehr, keine Straßenlampen, keine Verandabeleuchtung, keine Flugzeuge oder Boote. Nichts, was sie daran hindert, das zu tun, wofür der liebe Gott sie erschaffen hat. Sie kommen aus dem Wasser, so behäbig und schwer, legen ihre Eier, und dann kehren sie ins Wasser zurück, so wie sie es schon seit Anbeginn der Zeit getan haben.«
In diesem Moment war Cassandra froh, dass May diese Lampen zerschossen hatte. Es war nicht richtig, dass die Menschen alles durcheinanderbrachten. Die Schildkröten waren lange vor ihnen da gewesen. Eines Tages würde die See all diese Häuser am Strand einfach fortreißen. Sie hatte irgendwo gelesen, dass die Strände sich unaufhörlich bewegten. Bau dein Haus nicht auf sandiges Land, stand schon in der Bibel. Trotzdem liebte sie den Blick aufs Meer ebenso wie alle anderen.
»Tja«, meinte Annie Laurie. »Immerhin hast du gesehen, wie die Eier ausgebrütet wurden, und hast den Kleinen geholfen, den Weg ins Wasser zu finden.«
»Ich weiß.« May seufzte und hob den Kopf wieder, während sie ihre Hände auf der Wasseroberfläche hin und her schweifen ließ. »Aber ich kann nicht anders, als es mir zu wünschen.«
Mit ihrem Haar, das sie sich aus dem Gesicht gestrichen hatte, und ihren nassen, im Sternenlicht glitzernden Schultern sah May tatsächlich wie eine Meerjungfrau aus, fand Cassandra. Eine gereifte Meerjungfrau mit einem Doppelkinn. Was für ein seltsamer Zufall, dass ausgerechnet sie,
zwei Frauen mit Wurzeln tief in den Bergen, das Meer so sehr liebten. »Tante May«, sagte sie, »hast du eigentlich jemals Heimweh?«
May lachte. »Um Heimweh zu bekommen, müsste ich erst einmal irgendwo hingehen, Schatz.«
Cassandra fiel ein Artikel über den Mann aus Utah wieder ein, der an die Küste von North Carolina gezogen war und meinte, er könne sich nicht vorstellen, anderswo zu leben. »Ich schätze, ich bin einfach nur weit weg von zu Hause geboren worden«, sagte er zu dem Reporter.
»Als ich noch klein war, habe ich dich immer so gern zu Hause besucht«, sagte Cassandra.
May lachte. »Oh ja, meine Güte, und du fandest es schrecklich, wieder gehen zu müssen. Ich erinnere mich daran, wie du einmal weggelaufen bist und dich versteckt hast, damit wir dich nie wieder finden. Du hast deiner armen Mutter Todesangst eingejagt. Sie dachte, du wärst ertrunken.«
»Wirklich? Daran erinnere ich mich nicht mehr.«
»Wo hatte sie sich denn versteckt?«, wollte Annie Laurie wissen.
»Sie saß dort drüben zwischen den Dünen, mitten in einem riesigen Haufen Algen. Damals war sie höchstens vier oder fünf. Hätte sie nicht eine Melodie gesummt, hätten wir sie vielleicht nie gefunden. Sie saß da und spielte fröhlich im Sand.«
Wie Annie Laurie, dachte Cassandra. Sie hatte sie zwischen den Dünen in der Nähe des Piers sitzen und aufs Meer hinausblicken sehen. Es war ein guter Ort zum Nachdenken, windgeschützt und abseits von allen anderen. Cassandra gefiel der Gedanke, dass sie tapfer genug gewesen war, ganz allein loszuziehen, und wünschte, sie könnte das kleine Mädchen einmal sehen, nur ganz kurz.
»Mutters Familie stammt von einer Insel, irgendwo dort drüben, weißt du«, fuhr May mit einer Geste in Richtung
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