In dein Herz geschrieben
Arm um sie, als Annie Laurie sich gegen sie lehnte. Oh Gott, dachte sie, dieses Mädchen braucht so dringend eine Mutter. Bitte hilf ihr. Dreizehn zu sein war schon mit beiden Elternteilen schwierig genug. Es war nicht fair, dass Annie Laurie dieses Tal der Verlorenen zwischen Kind- und Frausein allein durchwandern musste. Sie brauchte jemanden, der ihr half, und Cassandra war schrecklich wütend auf Annie Lauries Mutter, weil sie sie im Stich gelassen hatte. Doch dann erinnerte sie diese leise hasserfüllte Stimme in ihrem Innern, die sich ein wenig wie Doris anhörte, dass auch sie Annie Laurie im Stich lassen würde.
Sie kam sich vor wie in dem Film Eine Braut für sieben Brüder , nur ohne den Gesang und die Tanzeinlagen. Sie konnten froh sein, dass das Wetter hielt, denn das Haus war viel zu eng für all die O’Neals - Hector und seine vier rothaarigen Brüder, deren Frauen und Kinder, dazu diverse Cousins und Freunde. Cassandra saß mit ihrem mit einem Hotdog, Bohnen und Kartoffelchips beladenen Teller auf der Treppe hinter dem Haus und beobachtete, wie sie aßen, lachten, sich unterhielten. Sie hatte Angst gehabt, ihr könnte zu heiß werden, aber die Sonne ging bereits unter, eine leichte Brise wehte, und die Virginia-Eichen und ein anderer Baum namens Yaupon-Palme spendeten ausreichend Schatten.
Hectors Familie zu beobachten war fast, als sehe man sich ein Homevideo an. Dieselbe Familienzusammenkunft könnte ebenso gut zu Hause in Davis stattfinden, mit all ihren Brüdern und Ruth Ann und deren Familien. So wie hier würden sich ein paar Männer um den Grill scharen, ihr Bier trinken und über die beste Bratmethode debattieren. Ein paar Meter entfernt hatten sich andere zusammengefunden und unterhielten sich über Sport, Angeln oder die Jagd, während die Frauen Essen zwischen Küche und Garten hin und her trugen und
den Kindern Ermahnungen zuriefen, die wie eine Horde losgelassener Zootiere im Garten herumtobten.
»Was ist los, Schätzchen?« Eine von Hectors Schwägerinnen setzte sich neben sie. Jeannie war gerade einmal einen Meter fünfzig groß, mit braunem Haar und den größten, freundlichsten braunen Augen, die Cassandra je gesehen hatte. Wie all die anderen war auch sie hier geboren und hatte die Insel kaum jemals verlassen, es sei denn, um einkaufen zu gehen oder einen Arzt aufzusuchen. »Geht dir diese riesige laute Horde auf die Nerven?«
Cassandra lächelte auf Jeannie hinunter und kam sich wie eine Amazone neben ihr vor. »Ich bekomme Heimweh davon.«
»Ich bin Einzelkind. Das ist der Grund, weshalb ich Reg geheiratet habe. Um eine größere Familie zu bekommen.«
»Tja, das ist dir allerdings gelungen. Welche sind deine Kinder?«
Jeannie deutete zu dem Picknicktisch, an dem Annie Laurie und einige andere Kinder saßen. »Das dunkelhaarige Mädchen neben Annie Laurie. Die, die wie ein Maschinengewehr plappert, und der rothaarige Junge auf der Schaukel.«
»Sie sehen süß aus.«
»Oh, lass dich davon nicht täuschen. Es sind kleine Teufel, alle beide.«
»Und du würdest sie für nichts auf der Welt hergeben.«
Jeannie schüttelte den Kopf. »Nein. Und ihren Vater auch nicht. Du bist nicht verheiratet?«
Cassandra wurde steif und spürte die Verlegenheit, weil sie mit Hector hier war. Dachten sie, dass sie seine Freundin war? Beruhig dich, sagte sie sich. Jeannie betreibt doch nur Konversation. »Nein. Ich stand kurz davor, habe es mir aber in letzter Minute anders überlegt.«
Jeannie sah zu ihr auf und tätschelte ihren Arm. »Tja, besser davor als zu spät.« Sie hatte sich auf die Ellbogen gestützt,
lehnte sich zurück und nickte in Hectors Richtung, der auf einem umgedrehten Boot saß und sich mit zwei seiner Brüder unterhielt. »Wie unser Hector. Wir haben alle versucht, ihm Lilah auszureden, aber es hat nichts genützt. Er musste sie unbedingt haben.«
Cassandra wusste, dass es sie nichts anging und sie lieber den Mund halten sollte, aber sie konnte sich nicht zurückhalten. »Was ist passiert?«, fragte sie in der Hoffnung, dass das reichen würde, um Jeannie die ganze Geschichte zu entlocken.
»Solange sie noch in New Jersey lebten, schienen sie sich ganz gut zu verstehen. Damals war er bei der Küstenwache. Aber als er sie und Annie Laurie nach Ocracoke gebracht hat, war es zu viel für Lilah. Sie hat es nicht ausgehalten. Ich mochte sie nie besonders, muss ihr aber zugutehalten, dass sie es wenigstens versucht hat. Sie hat sogar länger durchgehalten, als ich
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