In dein Herz geschrieben
»Sie war eine sehr gute Mutter.«
»Vermisst du sie?«
»Oh, Schatz«, sagte Cassandra. »Jeden Tag.«
Als sie durch die Dunkelheit an den Strand zurückkehrte, diesmal mit einer Taschenlampe, dachte Cassandra, dass sie vollkommen den Verstand verloren haben musste, ganz allein mitten in der Nacht hierherzukommen. Aber nachdem sie Annie Laurie zu Hause abgeliefert hatte, ertrug sie den Gedanken nicht, sich dort herumzudrücken und in Hectors Haus zurückzukehren, unter einem Dach mit ihm die Nacht zu verbringen. Außerdem war ihre Anspannung viel zu groß, um an Schlaf zu denken. Wäre der Fährverkehr nicht bereits über Nacht eingestellt, wäre sie jetzt dort und auf dem Weg zurück nach Hause.
Hier waren die Dünen weiter vom Meer entfernt, doch sie wollte nicht in der offenen Brise stehen, also machte sie es sich zwischen zwei kleinen Sandhügeln bequem. Von Zeit zu
Zeit frischte die Brise auf, und die Wellen brachen sich lauter am Ufer als in Bogue Banks, manchmal sogar mit gewaltiger Wucht. Vermutlich wurde diese Gegend nicht umsonst als Friedhof des Atlantiks bezeichnet. Natürlich bezog sich diese Bezeichnung auf Schiffe, nicht auf Menschen. Trotzdem fühlte es sich an, als wäre es ein nicht ganz ungefährlicher Ort, als könnte das Wasser jederzeit aufbranden und einen mit sich reißen.
Sie dachte an Doll, wie das Meer sie verschlungen hatte und was das für Doris bedeutet haben musste. Und für Hector. Allein Annie Lauries Anblick, als sie litt, hatte ihr fast das Herz herausgerissen. Sie konnte sich durchaus vorstellen, dass der Tod eines Kindes den Wunsch in einem auslöste, selbst zu sterben, oder den Gedanken aufkommen ließ, es wäre besser gewesen, überhaupt nie Kinder bekommen zu haben. Doch dann dachte sie an May, daran, wie sie sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, so sehr, dass sie etwas finden musste, um den Raum in ihrem Innern zu füllen, der eigentlich Kindern vorbehalten gewesen war. Wahrscheinlich war sie jetzt draußen am Strand, marschierte auf und ab und behielt ihre Babys im Auge. Vielleicht sollte ich das auch tun, dachte Cassandra. Mich um jemanden kümmern, um die Leere an der Stelle in meinem Herzen auszufüllen, die eigentlich Kindern gehören sollte.
Himmel, sie war Meisterin im Verdrängen. Sie hatte sich etwas vorgemacht, besonders im Hinblick auf Annie Laurie. Das Mädchen hatte eine Mutter. Okay, in Wahrheit verdiente sie diese Bezeichnung nicht, aber das spielte anscheinend keine Rolle. Wie viele Fehler Mütter auch machten, die Kinder wollten sie stets um sich haben, brauchten sie, liebten sie. Man musste sich nur einmal Evelyns Kinder ansehen. Sie hatte deren Bitte, zu ihnen zu ziehen, jahrelang abgeschlagen, doch sie hatten es trotzdem immer wieder versucht. Die arme Annie Laurie, sie hatte sich so darauf gefreut, ihre Mutter zu
sehen, auf die Chance, ihre Eltern wieder zusammenzubringen. Der vollkommen natürliche Wunsch eines Kindes. Cassandra wusste, dass sie nicht das Recht hatte, gekränkt zu sein, trotzdem war sie es. Es kam ihr so vor, als sei sie die ganze Zeit nur ein Platzhalter für diese andere Frau gewesen.
Na schön, so sah es mit dem Abbrechen aller Brücken bei ihr aus. Sie hatte sich von Dennis getrennt, sie hatte herausgefunden, dass Hector nach wie vor verheiratet war und wahrscheinlich immer noch verliebt in seine Frau, ob er es nun zugeben wollte oder nicht. Wieso sollte er sonst die Scheidung so lange hinauszögern? Wahrscheinlich hegte er dieselben Hoffnungen wie Annie Laurie. Dass Delilah zurückkehrte und sie alle wieder eine Familie wurden. Gott, was für ein Déjà-vu. Wie dieser Traum, den sie ständig hatte - der, in dem sie irgendwo außerhalb stand und ihre Familie beobachtete. Offenbar war es ihr Schicksal, ihre Bestimmung oder wie man es nennen wollte, am Ende stets allein zu bleiben. Vielleicht hatte Ruth Ann ja recht und sie gehörte tatsächlich zu jenen Menschen, die dafür geboren waren, anderen zu helfen.
Sie hatte gedacht, sie hätte endlich eine Familie gefunden, die sie als ihre eigene bezeichnete, nicht nur Hector und Annie Laurie, sondern sie alle, May und Walton, Chester und Skeeter, Doris und Harry Jack, Hazel. Doch nun konnte sie unmöglich hierbleiben. Salter Path war deren Zuhause, viel mehr als ihres, und wenn jemand gehen musste, dann sie. Sie würde nach Davis zurückkehren, wo sie hingehörte.
Der Wind kühlte ihr erhitztes Gesicht, und die Sterne leuchteten gleißend hell hier draußen, so weit von jeder
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