In dein Herz geschrieben
Zivilisation entfernt. Es fühlte sich an, als würde sie von Himmel und Meer genährt. Sie linderten nicht den Schmerz der Einsamkeit, machten ihn jedoch erträglicher, erinnerten sie daran, wie viel es in ihrem Leben gab, wofür sie dankbar sein musste. Annie Laurie und Hector waren in Sicherheit, und Cassandra war überzeugt, dass diese Nacht einen Wendepunkt
darstellte. Sie würde Hector die Augen öffnen und ihn und Annie Laurie einander wieder näherbringen. Und sie hatte einen herrlichen Sommer am Meer verlebt, hatte neue Freunde gefunden, Abenteuer erlebt. Die Zeit war nicht verschwendet.
Und sie würde nicht in Selbstmitleid baden. Nein. Sie würde Mays Beispiel folgen. Nur weil sie nicht bekommen hatte, wonach sie sich sehnte, nur weil eine Leere in ihrem Herzen zurückbleiben würde, wenn sie Salter Path verließ, die durch nichts gefüllt werden konnte, bedeutete das noch lange nicht, dass sie allein und unglücklich sein musste. May hatte etwas gefunden, dem sie sich mit all ihrer Liebe und Energie widmen konnte, und genau das würde sie ebenfalls tun. In Davis gab es zwar keine Schildkröten, dafür aber Nichten und Neffen, eine Schwester und Brüder. Es mochte eine andere Liebe sein als die, die sie sich erhofft hatte, aber dennoch Liebe. Obwohl es im Moment nicht so aussah, sagte sie sich, dass ein klein wenig von dem, wonach sie sich sehnte, immer noch besser war als gar nichts.
SEPTEMBER
»Aber wenn eine junge Dame dazu bestimmt ist,
Romanheldin zu werden, können auch die widrigsten
Umstände in noch so vielen Familien um sie herum
sie nicht davon abhalten. Etwas muss und wird
geschehen, damit ihr der Held über den Weg läuft.«
Jane Austen
46
Cassandra schien keine Ruhe zu finden, sondern wanderte pausenlos im Haus umher, ruhelos wie der Wind draußen. Der Wettermann in den Nachrichten hatte angekündigt, die Ausläufer des Hurrikans Florence würden bis an die Berge heranreichen, doch am schlimmsten würde es im Lauf der kommenden Nacht die Küste treffen. Wieso mussten beängstigende Dinge eigentlich immer nachts passieren? Sie hasste die Vorstellung, wie die Menschen alle unten in Salter Path saßen und voller Angst darauf warteten, dass die Gefahr wieder verschwand. Aber sie kannten sich damit aus und wussten genau, was sie zu tun hatten. Sie brauchten Cassandra nicht. Sie gehörte hierher, sie musste sich um Catherine kümmern, damit Ruth Ann, A. J. und Keith ins Krankenhaus fahren konnten, um bei Ashley und dem Baby zu sein. Der kleine Andrew Jackson Junior. Ein Glück, dass sie beschlossen hatten, ihn Jack zu nennen. Ein A. J. in der Familie genügte vollauf.
Sie hatte Catherine schlafen gelegt und in Ruth Anns Badezimmer eine Frauenzeitschrift entdeckt, die jetzt vor ihr auf
dem Küchentisch lag. Das Heulen, mit dem der Wind ums Haus fegte, erinnerte an den bösen schwarzen Wolf, der versuchte, einzudringen. Sie setzte sich und versuchte, sich auf einen Artikel zu konzentrieren, der ihr ins Auge gefallen war: »Selbstfindung und Leidenschaft. Finden Sie heraus, was Sie wirklich lieben.« Als müssten Leute einen Artikel lesen, um herauszufinden, wie das ging. Die Dinge, die man liebte, sollten doch auf der Hand liegen. Familie. Freunde. Doch in dem Artikel ging es um mehr als das. Es ging darum, wie man die wahre Leidenschaft im Leben fand, Zugang zu jenen Dingen, zu denen man sich berufen fühlte. Wozu fühlte sie sich berufen? Hier zu sitzen und auf ihre Nichte aufzupassen? Einen Job zu finden. Einen Ort zum Leben. Schon allein darüber nachzudenken machte sie müde.
Doch es bestand kein Grund zur Eile. Sie war erst seit zwei Wochen zurück, und Ruth Ann drängte sie nicht, bald auszuziehen. Ehrlich gesagt hatten sie sich noch nie so gut verstanden wie im Moment. Trotzdem erfüllte es sie mit Sorge, dass sie keinerlei Bedürfnis verspürte, etwas anderes zu tun als sich hier im Haus herumzudrücken. Sie hatte ihren kleinen Urlaub gehabt, den Sommer am Meer, und jetzt war es Zeit, ins richtige Leben zurückzukehren. Nur dass sich hier nichts mehr wirklich real anfühlte. Sie kam sich wie ein Gespenst vor, das unsichtbar herumstand, während alle anderen ihren Tätigkeiten nachgingen: Ashley, die die Kindertagesstätte führte, Keith auf der Farm, Ruth Ann und A. J. ihr Blumengeschäft. Nur sie, Cassandra, irrte ziellos durch die Gegend. Punkt.
Etwas prallte gegen die hintere Tür und erschreckte sie zu Tode. Der große böse Wolf musste einen Ast abgerissen oder einen leeren
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