In dein Herz geschrieben
meinte, sie sei verrückt, ebenso wie Doris, auch wenn die es nie so offen aussprach wie Walton. Trotzdem wusste May es. Manchmal sah sie, wie die beiden einen vielsagenden Blick tauschten, einen dieser »Die arme alte May, jetzt tut sie es wieder«-Blicke, doch die Ungläubigkeit anderer zu tolerieren gehörte zu dem Preis, den sie für ihre Gabe zahlte. Dabei sollte Doris mit ihren Träumen eigentlich mehr Verständnis für sie aufbringen.
May nahm den Speck aus der Pfanne und legte ihn zum Abtropfen auf ein Stück Küchenrolle, ehe sie vier Eier in die Pfanne schlug und zusah, wie sich das Eiklar weiß färbte und zu stocken begann. Dann drehte sie die Spiegeleier um, bestreute sie mit Salz und Pfeffer, legte zwei Eier und drei Speckstreifen auf einen Teller, den sie vor Doris auf den Tisch stellte, ehe sie den Rest auf ihren eigenen Teller häufte und sich hinsetzte. Sie reichten einander die Hände für ein rasches Dankesgebet, doch bevor Doris etwas sagen konnte, zog May ihre Hand zurück. »Ich habe den Toast vergessen«, sagte sie panisch. Sie hatte die Scheiben in den Toaster gelegt, dann jedoch vergessen, den Hebel nach unten zu drücken. Sie wusste nicht, wann ihr das zum letzten Mal passiert war. Wurde sie etwa senil? Oder könnte es ein Zeichen sein? May glaubte an
Zeichen - noch so etwas, das Doris und Walton nicht verstehen konnten.
Als der Toast aus dem Apparat sprang, perfekt gebräunt auf beiden Seiten, trug sie ihn zum Tisch und setzte sich wieder hin. »Ich kann nicht glauben, dass ich das vergessen habe«, sagte sie und nahm erneut Doris’ Hände.
Doris schüttelte den Kopf. »Mach dir deswegen keine Gedanken.«
May sprach ein kurzes Gebet, damit sie endlich anfangen konnten, bevor es kalt wurde. »Ich verstehe das nicht«, beharrte sie und zerdrückte ihre Eier in einer Weise, von der sie wusste, dass sie Doris in den Irrsinn trieb. Aber sie konnte nicht anders, sie mochte ihre Eier nun mal am liebsten so, wenn das Eiweiß und der flüssige Dotter vollständig vermischt waren. »Wie oft habe ich wohl schon das Frühstück auf diese Weise zubereitet und dabei etwas vergessen, was meinst du?« Sie redete grundsätzlich zu schnell und zu viel, wenn sie aufgeregt war, und ihr entging nicht, dass es Doris ebenfalls aufgefallen war, wie die kleine Furche verriet, die sich zwischen ihren Brauen bildete. »Doris, hör auf, mich so anzusehen. Ich habe meine Tablette genommen. Es geht mir gut.« Es lag nicht an ihrem Blutdruck, dass sie mit einem Mal dieses seltsame Prickeln spürte. So hatte sie sich schon lange Zeit nicht mehr gefühlt, nicht mehr, seit sie dreimal nacheinander beim Bingo gewonnen hatte. Etwas würde passieren, etwas Großes, etwas, das ihrer aller Leben verändern würde. War der Toast etwa der Vorbote?
11
Cassandra hatte vom Meer geträumt. Sie war am Strand, um Muscheln zu sammeln, und ärgerte sich, weil alle anderen die schönen fanden, nur sie nicht. Alles, was für sie übrig blieb, waren zerbrochene Schalen, kein einziges unversehrtes Exemplar. Sie watete ins Wasser und ging auf die Knie, wobei die Brandung gegen ihre Oberschenkel schwappte. Auf Knien war es einfacher, etwas zu erkennen, weil sie näher an der Wasseroberfläche war, obwohl die Wellen sie ständig umzuwerfen drohten. Das Sonnenlicht wurde vom Sand reflektiert, tanzte auf dem Wasser. Und da waren sie - die schönsten Muscheln, die sie je gesehen hatte. Groß und rein und vollkommen, so wie die, die sie damals bei der Muschelschau in Pine Knoll Shores bewundert hatte. Ihr Herz schlug höher. Endlich, dachte sie und griff nach der allergrößten.
Endlich. Das war das Wort, die Empfindung, mit der der Traum entfloh, als sie aufwachte. Endlich war sie an der Reihe. Endlich gab es auch für sie etwas. Stets versuchte sie, nett zu sein und anderen den Vortritt zu lassen, und nun, endlich, wurde sie dafür belohnt. Es war ein schönes Gefühl, dieses Endlich-Gefühl, und sie hasste es, die Augen aufzuschlagen und es zu verlieren. Der Traum war fast so schön wie dieser Liebestraum, den sie schon zwei- oder dreimal in ihrem Leben geträumt hatte und der der allerschönste von allen war. Jener Traum, in dem sie den Mann, der sie liebte, zwar nicht sehen konnte, aber wusste, spürte, dass da jemand war, der sie ihr entgegenbrachte, diese wunderbare, warme Liebe, die wie eine Woge über sie hinwegspülte. Sie wusste nie im Voraus, wann er wiederkam, und hasste es, wenn er von ihr wich.
Sie streckte sich, berührte
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