In dein Herz geschrieben
ohne dass es eine Menschenseele kümmert.«
»Tja, May«, hatte sie erwidert, wohl wissend, dass May es nicht gern hören würde, auch wenn es die Wahrheit war. »Wenn du kurz darüber nachdenken würdest, wäre dir klar, dass ich vernichtet werde . Inzwischen gibt es mehr Touristen in Ocracoke als Leute wie mich, die dort geboren und aufgewachsen sind. Was soll mich retten? Meinst du, jemand würde mal einen Touristen-Vertreiber erfinden?«
»Was hat das damit zu tun?«, hatte May gefragt, deren Gesicht so dunkelrot angelaufen war, dass Doris nur hoffen konnte, dass sie ihr Blutdruckmedikament genommen hatte.
»Wahrscheinlich nichts«, hatte sie seufzend erwidert. »May, du weißt, dass ich Schildkröten auch liebe.« An dieser Stelle hätte sie aufhören sollen, doch sie hatte nicht widerstehen können. »Am liebsten in der Suppe.«
Augenblicklich hatte sie ein schlechtes Gewissen überkommen, als May die Lippen aufeinandergepresst hatte und aus der Küche gestürmt war. Normalerweise hatte May durchaus Humor, aber nicht, wenn es um ihre geliebten Schildkröten ging. Doris hatte nichts gegen sie und begleitete May sogar manchmal, wenn sie nach ihren Legeplätzen sah. Auch ihr wäre es recht, wenn die Schildkröten geschützt werden würden, aber wenn zwischen den Tieren und den Menschen zu wählen war, würde sie sich stets für die Menschen entscheiden. Außerdem meinte Hector, sie könnten sich nicht vorstellen, wie viele Schildkröten er täglich in den Meerengen und auf der offenen See sähe. Massenweise Schildkröten.
Aber nun, mit diesem verdammten alten Crohn, würde sie noch nicht mal eine Schildkröte vertragen, wenn sie eine fangen würden. Anscheinend bekam ihr nichts mehr von alldem, was sie am liebsten aß. Sie hatte nur einen Wunsch: eine Tablette nehmen und sich hinlegen, aber Doris wusste, dass sie ihre Ruhe erst richtig würde genießen können, wenn sie May dazu gebracht hatte, wieder mit ihr zu reden.
»Da kommt Hector«, stellte May fest. Doris blickte über die Schulter und sah ihn vom Dock herüber durch den Garten kommen. Er sah müde aus, was kein Wunder war, da er erst um sieben Uhr früh nach Hause gekommen war. Sie war auf der Toilette gewesen, als sein Laster die Auffahrt heraufgekommen war.
May blickte über ihre Schulter und musterte Doris. »Was ist mit dir los?«, fragte sie. »Du siehst wie der leibhaftige Tod aus.«
Hätte sie die Energie aufgebracht, hätte Doris May am liebsten einen Klaps verpasst. Sie öffnete den Mund, doch bevor ein Wort über ihre Lippen dringen konnte, wurde sie von einer Woge des Schmerzes erfasst, und dann war mit einem Mal alles dunkel.
13
Noch bevor sie das Haus erreichte, war ihr zumute, als komme sie nach Hause. Es lag sicher daran, dass sie sich auf der Insel befand, inmitten all der vertrauten Orientierungspunkte, der Erinnerungen an schöne Zeiten. Dort war das Big Oak Drive-In, die Heimat des besten Shrimp-Burgers der Welt, dann das Crab Shack, ihr Lieblingslokal auf der Insel, und nicht nur wegen der leckeren traditionellen Fischgerichte oder weil es sich direkt am Sund befand, so dass man beim Essen aufs Wasser hinaussehen konnte. Es lag an etwas anderem, an etwas, was darüber hinausging, an einem Gefühl des Wiedererkennens. All das erinnerte sie an das Fischlokal zu Hause, wo sie zu Lebzeiten ihres Vaters jeden Freitag zu Abend gegessen hatten.
Der Highway 58 teilte die Insel in zwei Hälften und trennte die Sund- von der Meerseite, die verschiedener nicht sein konnten. Die Häuser auf der Meerseite waren groß und allem ausgesetzt, was auch immer der Ozean herantrieb. Die Häuser auf der Sundseite standen inmitten von Virginia-Eichen und Dünen, waren kleiner und nicht ganz so feudal. Zu dieser frühen Morgenstunde waren nicht viele Leute unterwegs, nur ein paar Touristen mit Klappstühlen, ein paar alte Männer in Bermudas und weißen Socken in Sandalen und ein Teenager, der einen Hund Gassi führte. Sie blieben alle stehen und starrten die vorbeifahrende Limousine an. Seit sie die Chauffeurlizenz erworben und angefangen hatte, Fahrten für Dennis zu machen, war ihr aufgefallen, wie die Leute glotzten. Auch sie tat das, wenn sie eine Limousine auf der Straße sah, versuchte, einen Blick durch die getönten Scheiben zu werfen, und fragte
sich, ob wohl ein Filmstar darin sitzen mochte. Doch die einzigen Fahrgäste dieses Wagens hier waren trauernde Familien und Teenager auf dem Weg zum Abschlussball.
Sie war so beschäftigt
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