In dein Herz geschrieben
gleich gegenüberstehen würde und sie wüssten, was sie getan hatte. Sie hatte May am Telefon nicht alles erzählt, nur dass die Hochzeit abgeblasen worden war und sie allein kommen würde. Den Rest würde sie ihnen später noch erklären.
Onkel Waltons uralter weißer 73er Ford Pickup, den er Missy nannte, stand allein in der Auffahrt. Sie fragte sich, ob Tante May jemals Autofahren gelernt hatte. Wenn sie irgendwo hinwolle, könne sie ja zu Fuß gehen oder Walton fahre sie, hatte sie früher immer gesagt. Cassandra konnte sich nicht vorstellen, ohne fahrbaren Untersatz zu sein. Bei den wenigen Gelegenheiten, als ihr Wagen in der Werkstatt gewesen war, hatte sie sich wie eine Gefangene im eigenen Haus gefühlt. Sie hoffte nur, dass Ruth Ann nicht vergaß, A. J. ihren Wagen herbringen zu lassen.
Okay, dachte sie, hör auf, Zeit zu schinden. In einer Minute werden sie aus dem Fenster schauen, dich hier mitten auf der Straße im Auto sitzen sehen und glauben, du wärst verrückt. Sie fuhr in die Auffahrt und stellte den Wagen hinter Missy, doch ehe sie den Motor abschalten konnte, erschien Tante
May auf der Veranda und hielt die Fliegentür auf. Sekunden später erschien ein Mann mit einer Frau auf den Armen. Was um alles in der Welt war das? Er kam ihr so bekannt vor. Onkel Walton war es nicht. Nein, dieser Mann war viel jünger und hatte viel dichteres Haar. Dichtes rotes Haar.
Oh Gott, dachte sie, als er näher kam und sie ihn besser erkennen konnte. Das kann doch nicht sein.
Ihre Tante lief um sie herum und kam auf den Gehsteig gehastet, wobei sie die Arme schwenkte und irgendetwas rief. Cassandra stieg aus und sah sie über das Wagendach hinweg an. »Was?«, rief sie.
»Steig wieder ein. Du musst Doris ins Krankenhaus bringen.«
»Wer ist Doris?« Cassandra sah zwischen Hector und May hin und her.
»Hectors Mutter, Schatz«, antwortete May und riss die hintere Wagentür auf, gerade als Hector sie erreichte. Er hob die Frau auf den Rücksitz, und Cassandra bückte sich, um sie besser erkennen zu können. Doris war groß, sehr schlank und musste um die fünfundsechzig oder siebzig sein. Und sie war bewusstlos.
Ehe sie einen Entschluss fassen konnte, wie sie sich verhalten sollte, stand Hector neben ihr und blickte sie bestürzt an. »Tut mir leid«, sagte er und streckte die Hand aus. »Bitte.«
Sie warf einen Blick zu May hinüber, die nickte, ehe sie ihm die Schlüssel reichte und beiseitetrat. Der arme Mann, sie konnte sich genau vorstellen, was er durchmachte. Es war noch nicht allzu lange her, seit sie mit ihrer Mutter in derselben Lage gewesen war. Sie ging um den Wagen herum zu May, die noch immer neben der geöffneten hinteren Wagentür stand.
»Schatz«, sagte May, »ich muss bei Annie Laurie bleiben. Du musst einsteigen und sie festhalten, damit sie nicht auf dem Rücksitz herumrutscht.«
Cassandra sah May entgeistert an. War sie verrückt geworden? »Wer ist Annie Laurie?«
»Hectors kleine Tochter. Und jetzt steig ein.«
Mays Hand auf ihrem Rücken erinnerte sie daran, wie sie tags zuvor bei ihrer Hochzeit bedrängt worden war. Sie erstarrte und blickte in Mays angstvoll verzerrtes Gesicht.
»Aber, Tante May«, flüsterte sie, »ich kenne diese Leute noch nicht einmal.«
»Sie leben hier, Schatz. Es ist in Ordnung. Und jetzt geh.«
Ohne zu wissen, wie ihr geschah, fand Cassandra sich im Wagen wieder. Doris’ Kopf und Schultern lagen auf ihrem Schoß, und sie sah Tante May winken, als Hector rückwärts aus der Einfahrt stieß und in Richtung Morehead City fuhr.
Als ihre Mutter gestorben war, hatte sie sich geschworen, nie wieder einen Fuß in ein Krankenhaus zu setzen. Cassandra hasste Krankenhäuser, hasste die Wartebereiche, hasste die weißen Wände, die Konservenluft, die alten Zeitschriften, das Warten, die Tatsache, dass Leute hierherkamen, weil es ihnen schlecht ging und sie manchmal sogar starben. Trotzdem brachte sie es nicht über sich, ihn allein hier zurückzulassen. Was, wenn seine Mutter starb? Sie ertrug die Vorstellung nicht, wie jemand all das allein durchmachen musste. Beim Tod ihrer eigenen Mutter hatte sie ihre Schwester und ihre Brüder bei sich gehabt, und sie war sicher, dass sie all das ohne sie nicht durchgestanden hätte.
Dass Doris bewusstlos war, hatte einen entscheidenden Vorteil: Sie brauchten nicht zu warten. In der einen Minute stand Hector mit ihr auf den Armen da, in der nächsten lag sie bereits auf einer Trage und wurde weggeschoben. Er wollte bei
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