In dein Herz geschrieben
schirmte die Augen mit der Hand ab, bis sie den Highway überquert hatte, dann senkte sie den Kopf und setzte ihren Weg fort. Sie blickte auf ihre Füße, auf den Sand, die
Muscheln und die winzigen Kieselsteine, bis sie zu Mays Haus gelangte. Es war eine der wenigen Straßen auf der Insel, die noch nicht geteert war und den Stürmen weitaus besser standhielt. Es spielte keine Rolle, wenn sie von Sand bedeckt war, weil man dem hier sowieso nicht entgehen konnte. So wie die Natur es erschaffen hatte. Und Sand reflektierte auch nicht die Sonne wie der Asphalt, so dass sie förmlich glühte. Als sie am Yankee-Haus vorbeikam, fragte sie sich wie immer, wieso jemand so viel Geld für ein Haus hingeblättert haben konnte, das er nur zwei Wochen im Sommer bewohnte. Aber in Wahrheit waren solche Leute die besten Touristen - die, die den Großteil des Jahres zu Hause blieben. Dank ihnen war es still und friedlich in ihrer Straße, genauso wie Doris es haben wollte. So wie es früher auf der ganzen Insel war. So wie zu Hause, bevor die Baulöwen die Grundstücke in die Finger bekommen hatten.
Auf Bogue Banks störten sie die Touristen weniger. Dies war nicht ihr Zuhause. In Ocracoke dagegen trieben sie sie regelrecht zum Wahnsinn - so wie sie in die Stadt einfielen und alles an sich rissen. Ohne diese Leute, die ständig hin und her fahren wollten, hätte er keinen Job, sagte Hector immer, und natürlich hatte er vollkommen recht damit, aber er musste auch nicht tagtäglich dort leben. Kaum einer der Männer musste das. Sie gingen zur Fähre, angelten oder fuhren mit dem Bagger herum und mussten sich nicht damit arrangieren wie die Frauen - mit dem Verkehr, dem Lärm, den Massen, den dämlichen Fragen, den wildfremden Menschen, die Fotos von ihnen machen und sie in ihrem Dialekt reden hören wollten. Es war richtig von ihr gewesen, Annie Laurie von alldem wegzubringen. In Salter Path war sie keine Kuriosität, und sie war in Sicherheit. Sie lebten zwar immer noch auf einer Insel, aber diese Brücke nach Morehead City machte für Doris einen gewaltigen Unterschied. Sie stand für Krankenhäuser, für gute Schulen und eine einfache Evakuierung, wenn es stürmte.
Sie stand für Seelenfrieden. Annie Laurie bräuchte niemals einen ganzen Tag, um zu einem Arzt in Norfolk zu kommen, so wie es bei Hector gewesen war, als er vom Baum gefallen war und sich das Schlüsselbein gebrochen hatte.
Unter der Virginia-Eiche in der Ecke von Mays Garten blieb Doris stehen, legte die Hand auf die Rinde und schloss die Augen. Sie musste sich ihre Geschichte zurechtlegen, bevor sie ins Haus ging, sonst würde May ihr ununterbrochen in den Ohren liegen. Sie war nur müde und nach Hause gekommen, um sich eine Weile hinzulegen, das war alles. Kein Grund, sich aufzuregen. Als sie die Augen wieder aufschlug, schienen die Blumen um sie herum in der Hitze regelrecht zu glühen. May war das reinste Genie, wenn es um Blumenzucht ging. Sie könnte irgendwo hinspucken, und an dieser Stelle würde noch etwas wachsen. An jedem Fleck, der nicht mit Rasen bedeckt war, sprossen Blumen: Petunien, Fleißiges Lieschen, Gänseblümchen, Hortensien und - sie waren nach den Rosen Mays ganzer Stolz und Freude - rosa und weißer Hibiskus mit Blüten so groß wie Kuchenteller.
Doris ging durchs Wohnzimmer in die Küche, wo May an der Spüle stand und eine große Kanne Tee zubereitete. Normalerweise gab es erst zum Abendessen welchen. »Ich bin’s« sagte sie, doch May drehte sich nicht um. Ein sicheres Zeichen, dass sie noch wütend war.
An diesem Morgen hatte May ihr einen Artikel über Shrimpfischer gezeigt, die neuerdings etwas namens TED-Netze verwendeten, durch die beim Fischfang die Schildkröten verschont blieben. Aber wenn die Schildkröten durch die Maschen schlüpfen können, dann können es die Shrimps auch, was bedeutete, dass sie weniger verdienen, hatte Doris gesagt. Was ja stimmte. Und schließlich scheffelten die Fischer ohnehin keine Reichtümer. Die meisten Fischer in Ocracoke kamen kaum über die Runden und mussten durch Zimmermanns- und Tischlerarbeiten zusätzlich Geld verdienen.
Und die Fischer in Harkers und Umgebung saßen im wahrsten Sinne des Wortes im selben Boot.
Kaum waren die Worte über ihre Lippen gekommen, hatte May sich auf sie gestürzt wie eine Ente auf einen Junikäfer. »Wie würde es dir denn gefallen, dich in einem Netz zu verheddern und ertrinken zu müssen?«, hatte sie gesagt. »Wie wäre es für dich, vernichtet zu werden,
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