In dein Herz geschrieben
Cassandra ihn vor einigen Wochen kennen lernte, war sie etwas irritiert, vor allem wegen seines Aussehens - einige fehlende Zähne, ein entsetzlicher Vorne-kurz-hinten-lang-Haarschnitt, Oberlippenbart, kurz gesagt: der Gesamteindruck eines Mannes, der vom Glück verlassen war. Doch ein Arbeitstag mit ihm genügte, um zu erkennen, dass seine äußere Erscheinung nicht das Ergebnis mangelhafter Pflege oder irgendeiner Verstörung war. Sein Stil war kein Zufall, und er scherte sich keinen Pfifferling darum, was die Leute über ihn dachten.
Als er seinen Kaffee holte und sich umwandte, um durchs Fenster auf den Pier hinauszusehen, musste sie lachen. Bis er aufgetaucht war, hatte sie nicht gewusst, dass es so viele verschiedene T-Shirts mit Angelmotiven gab. Sie könnten über Bord gehen und umkommen. Sie könnten in einen Sturm geraten und umkommen. Oder Sie könnten von der Couch fallen und umkommen stand auf dem Rücken des Exemplars von heute.
»Chester«, sagte sie. »Wo hast du denn dieses T-Shirt her?«
Er wandte sich um und sah ihr ins Gesicht, dann betrachtete
er die Vorderseite seines T-Shirts, auf dem Angeln ist nichts für Weicheier stand. Er grinste, und wieder fragte sie sich, weshalb er nichts gegen seine lückenhaften Zähne unternahm.
»Von der Angelausstellung in Morehead letztes Jahr«, antwortete er. »Was da steht, stimmt doch, oder?«
»Ich schätze schon«, meinte sie. Cassandra war sich sicher, dass in diesem Mann ein Philosoph schlummerte. Er hatte so etwas an sich, eine Ruhe, eine Art, anderen zuzuhören, so als nehme er etwas wahr, was andere nicht wahrnahmen. Als sie bei der Einarbeitung an ihrem ersten Tag jämmerlich versagte und deswegen schrecklich niedergeschlagen war, meinte er nur: »Alles halb so schlimm.« Er hatte ihr nicht erlaubt, ihre Handtasche zu holen, um den angerichteten Schaden zu begleichen, sondern hatte die schwarze Lederbrieftasche gezückt, die an einer Kette befestigt in seiner Gesäßtasche steckte, vier Münzen herausgenommen und sie in den Schlitz geschoben.
Chester kannte jeden Winkel und jeden Artikel im Laden, und sie konnte die Uhr nach ihm stellen. Punkt drei Uhr nachmittags hörte sie seine Schritte auf der Treppe, wenn er aus seinem Apartment herunterkam. Er stand in der Tür, die auf den Pier hinausging, um einen Blick aufs Wetter zu werfen, dann machte er sich eine Tasse Kaffee, ging ans Ende des Piers, wo er etwa zwanzig Minuten lang stehen blieb, eine Weile mit den zurückkehrenden Fischern plauderte, bevor er kehrtmachte, auf die Toilette ging und sie um vier Uhr ablöste. Sie ging davon aus, dass er diese Stunde für sich allein genoss, ehe er die halbe Nacht damit zubrachte, Köder zu verkaufen, Hotdogs zuzubereiten und Fisch abzuwiegen.
Sie las in ihrer Zeitschrift und horchte, wie er den ersten Schluck Kaffee dieses Tages schlürfte, obwohl er noch kochend heiß sein musste. Doch statt wie gewohnt an die Tür zu treten, hob er seinen Becher und nickte ihr zu. »Komm, geh ein Stück mit mir spazieren«, sagte er.
Es war viel zu heiß, denn es regte sich kaum ein Lüftchen. »Was ist mit dem Laden? Annie Laurie ist schon nach Hause gegangen.«
»Ach, Skeeter kann sich eine Weile drum kümmern. Skeeter!«
Für den Bruchteil einer Sekunde erinnerte er sie an ihren Vater. Nur weil er etwas tun wollte, fand er, dass man selbst alles stehen und liegen lassen und es ebenfalls tun sollte. Aber im Laden war nicht viel los, und sie würde in der Hitze schon nicht wegschmelzen. Sie hoffte nur, dass niemand kam und etwas kaufte, solange sie nicht da war. Skeeter machte immer schreckliche Unordnung in der Kasse, gab das Wechselgeld in die falschen Schlitze und legte die Banknoten verkehrt rum in die Fächer.
Als Skeeter reingekommen war, ging Chester voran nach draußen. Es waren nicht viele Leute beim Angeln, bemerkte sie, als sie ihren Hut aufsetzte. Nur die Unentwegten wie Harry Jack und Walton. Am Strand hingegen sah das anders aus. Er wirkte wie ein riesiges Puzzle - all die Farben und Gestalten, die sich drängten, so dass kaum ein freies Fleckchen Sand zu erkennen war. Irgendwo plärrte ein Radio, ein Rocksong aus den Siebzigern. Welcher war es nur? »Nah-nah-nah, nah-nah-nah, nah-nah-nah, the night Chicago died.« Gott, was für eine Musik für den Strand war das denn? Und wieso musste man überhaupt ein Radio mitnehmen? Sosehr sie Musik mochte, die gehörte nun nicht dorthin, fand sie. Nichts sollte die Gehörgänge blockieren, den Wind, die
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