In dein Herz geschrieben
Wellen, das vereinzelte Kreischen von Vögeln oder kleinen Kindern dämpfen. Diese Geräusche erzeugten eine ganze eigene Art von Musik.
Ein großes Schild mit der Aufschrift Nur für Fischer. Zutritt für Zuschauer verboten trennte das T-förmige Ende vom Rest des Piers. Doch niemand schenkte ihm Beachtung, schon gar nicht, wenn ohnehin keine Menschenseele dort draußen
war. Cassandra folgte Chester um das Schild herum, bis ganz ans Ende des Piers, wo sie sich ans Geländer lehnten. Zwischen ihnen befand sich eine dreißig Zentimeter große Bronzeplakette, die in der Mitte des Geländers angeschraubt war. In liebevoller Erinnerung an Wanda Piver. Mögen die Leinen immer gespannt sein . Wann immer sie die Zeilen las und nachrechnete, wurde sie traurig. Wie jung Wanda gewesen war, gerade einmal vierundfünfzig.
»Wusstest du, dass sie meine Frau war?«, fragte Chester.
Er sah aufs Meer hinaus, so dass sie den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht erkennen konnte. Chester hatte eine Frau gehabt? Nun ja, Skeeter musste ja eine Mutter gehabt haben, deshalb sollte es sie nicht weiter überraschen. Chester sah eben nur wie ein Einzelgänger aus und trug auch keinen Ring am Finger. Das war also der Grund, weshalb er jeden Tag hierherkam. Vielleicht hatte er an dieser Stelle ihre Asche ins Meer gestreut, oder es war ihr Lieblingsangelplatz gewesen. Vielleicht hatte er aber auch nur beschlossen, die Erinnerungsplakette hier anzubringen.
»Hier hat sie mir einen Heiratsantrag gemacht«, sagte Chester. »Genau an dieser Stelle. Ich schwöre, ich war noch nie so überrascht in meinem Leben.«
Er lächelte, und als der Wind ihm das Haar aus dem Gesicht wehte und die Zahnlücken von ihrer Seite aus nicht zu erkennen waren, gelangte Cassandra zu dem Schluss, dass er im Profil beinahe gut aussehend war. Sie konnte sich durchaus vorstellen, was Wanda bewogen haben mochte, sich in diesen Mann zu verlieben.
»Der kleine Skeeter, er war dort drüben beim Angeln, und Wanda sagte los, komm mit. Tja, ich bin ihr wie ein Hündchen nachgelaufen. Wir waren erst seit drei Monaten zusammen, aber ich war völlig hingerissen von ihr. Chester Fulford, ich möchte heiraten, hat sie gesagt. Im ersten Moment habe ich nichts darauf gesagt, weil ich dachte, sie meint es vielleicht
nur ganz allgemein. Jedenfalls hat sie mit dem Fuß aufgestampft und gesagt: Und? - Meinst du etwa mich?, habe ich gefragt, worauf sie in schallendes Gelächter ausgebrochen ist. Wen denn sonst, Dummkopf? Junge, Junge, wie sehr sie diese Stelle hier geliebt hat. Wann immer ich aus dem Fenster schaue, kann ich sie sehen, so als wäre es gestern gewesen. Sie hat auf der Bank dort gesessen, auf halber Höhe, wo Annette und Tater gerade angeln. Das war ihr Lieblingsplatz. Manchmal hat sie drei Stunden am Stück dort gesessen, besonders nachdem sie krank geworden war. Und sie hat immer etwas gefangen. Kein einziges Mal ist sie mit einer leeren Kühlbox nach Hause gekommen. Es war, als hätten sich die Fische gern von ihr angeln lassen.«
Cassandra hatte Wanda nicht gekannt, würde jedoch jede Wette eingehen, dass sie nicht nur dort gesessen hatte, weil sie gern angelte. Herrliche, dicke weiße Wolken bauschten sich am Horizont unter einem Himmel, der so strahlend blau war, dass Cassandra das Gefühl hatte, sie könne sich wie in einen Pool in sie hineinstürzen, wenn sie sie nur lange genug anstarrte. Trotz der Hitze konnte sie sich nicht von dem Anblick des Himmels und des Meeres lösen, besonders um diese Tageszeit, wenn das Blau am hellsten strahlte. Es war, als könnten ihre Augen und ihre Haut den Anblick in sich aufsaugen, ehe die Adern ihn erfassten, durch ihren Körper fließen ließen, bis in die Tiefen ihrer Organe, und ihn nährten.
Ihr Blick fiel auf Tony und Regina, die am Strand beschäftigt waren. Tony stand im tiefen Sand, während Regina am Ufer geblieben war. Weil sie sie praktisch jeden Tag am Strand beobachtete, erkundigte sie sich irgendwann bei Chester nach ihnen. Tony war pensionierter Mitarbeiter der Küstenwache und in zweiter Ehe mit Regina verheiratet. Die beiden stammten aus Beaufort. Wie bei Chester schienen ihre Anforderungen und Erwartungen an das Leben nicht sonderlich hoch zu sein, sondern sie gaben sich mit einfachen Dingen zufrieden,
wie den kleinen Schätzen, die sie am Strand fanden. Einmal hatte Cassandra Tony gefragt, was der tollste Fund sei, den er am Strand je gemacht hatte. Daraufhin hatte er den Arm um Regina gelegt. »Meine Frau«,
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