In dein Herz geschrieben
Mädchens unter einem Baum. »Das neben ihr ist Daddy.«
Cassandra beugte sich vor, um das Foto genauer in Augenschein zu nehmen. Hector war so mager - auf diese typische Art, die Jungs an sich hatten, wenn sie so schnell wuchsen, dass sie ständig essen sollten, aber trotzdem aussahen, als bekämen sie nicht genug. Auch von ihren Brüdern gab es solche Aufnahmen, doch mit zunehmendem Alter hatten auch sie zugelegt. So wie Hector. Er trug Jeans und ein weißes T-Shirt, und seine gebräunten Arme hoben sich deutlich gegen den weißen Stoff ab. Er hatte den Mund zu einem Lächeln verzogen und sah so glücklich aus. Sein Arm lag über der Schulter seiner Schwester, die seinen kleinen Finger mit der Hand umfasste. Sie war ein gutes Stück kleiner als er und hatte dieselben Augen wie Doris, während Hector seinem Vater nachzuschlagen schien.
»Und ihr Name war Doll?«
»Ihr richtiger Name war Annie Laurie, so wie meiner, aber alle nannten sie Doll, denn als Daddy sie zum ersten Mal gesehen hat, sagte er, sie sehe wie eine Puppe aus. Sie ist mit dreizehn ertrunken.«
Dreizehn. Großer Gott! Cassandra sah Annie Laurie verstohlen an. Kein Wunder, dass Doris sie keine Sekunde aus den Augen ließ.
Annie Laurie nahm einen Fingerhut aus der Sammlung auf der Kommode und musterte ihn eingehend.
»Kannst du Rummikub spielen?«, fragte sie.
Cassandra brauchte einen Moment, um sich auf den raschen
Themenwechsel einzustellen. »Äh, nein, aber wenn du es mir zeigst, spiele ich gern mit dir.«
»Okay. Komm mit.«
»Jetzt sofort?«
»Klar. Wir können in der Küche spielen, solange May Abendessen macht.«
Schicksalsergeben folgte sie Annie Laurie die Treppe hinunter. Einen Moment lang dachte sie sehnsuchtsvoll an ihr stilles Zimmer, an ein hübsches Nickerchen. Nein, sie war selbst schuld. Niemand zwang sie, ihren freien Tag mit Annie Laurie zu verbringen. Doch nachdem sie ausgeschlafen und eine Weile in ihrem Zimmer herumgepusselt hatte, war sie unruhig geworden und zu May hinübergegangen. Annie Laurie hatte sie sofort mit Beschlag belegt.
Als sie am Tisch saßen, schob Annie Laurie eine Schuhschachtel mit Bastelutensilien beiseite, um Platz für die Karten zu machen. »Was ist das?«, fragte Cassandra.
»Meine Schildkrötenengel. Siehst du?« Annie Laurie hob einen hoch.
»Wie süß. Wann hast du damit angefangen?«
»Letztes Jahr, als ich eine tote Schildkröte am Strand gefunden habe. May war so traurig, dass ich etwas tun wollte, um sie aufzumuntern. Ich hatte die Idee, den Rücken einer Muschel anzumalen, damit er wie eine Schildkröte aussieht, dann habe ich kleine Flügel und eine Perle als Kopf drangeklebt. May war begeistert davon, und Oma wollte auch eine haben, und dann ein paar Leute in der Kirche, also habe ich angefangen, sie im Crab Shack und anderen Lokalen zu verkaufen.«
»Was willst du mit dem ganzen Geld machen?«
Annie Lauries Hände, die sich gerade um die Karten geschlossen hatten, erstarrten, und sie blickte Cassandra nachdenklich an, als müsse sie sich über etwas klar werden.
»Das ist ein Geheimnis«, sagte sie schließlich.
Muss etwas Ernstes sein, dachte Cassandra und fragte sich, ob es nur vor ihr ein Geheimnis war oder auch vor allen anderen.
Nach einer Weile kam May aus dem Garten rein und setzte sich zu ihnen, um die Kartoffeln zu schälen. Die Nachmittagssonne schien durchs Fenster und erhellte den Fußboden vor ihnen, und in der Ecke summte der Kühlschrank. Cassandra schaute zum Fenster und versuchte das Gefühl zu ergründen, das sie beschlichen hatte. Frieden, ja, das war es. Sie bemerkte erst, dass sie lächelte, als Annie Laurie »Was ist denn?« fragte.
Cassandra schüttelte den Kopf. »Nichts.«
»Hast du eigentlich Geschwister?«, fragte Annie Laurie sie.
»Klar. Eine Schwester und fünf Brüder.«
»Fünf! Das ist ja mehr als Daddy.«
»Wie viele hat der denn?«
»Vier. Sie leben in Ocracoke. Und ich habe zwölf Cousins und Cousinen.
»Zwölf. Meine Güte.«
»Dort waren wir auch am vierten Juli. Wir haben eine Party gefeiert und ein Feuerwerk gemacht.«
»Ich erinnere mich, dass du mir alles davon erzählt hast.«
»Dort habe ich auch gelebt, bis ich fünf war. Dann hat Oma mich hierher gebracht. Hier auf dem Festland gäbe es bessere Schulen, meinte sie, außerdem Krankenhäuser und all das.«
»Krankenhäuser?« Cassandra schüttelte den Kopf und sah zu May hinüber, die unwillig den Kopf schüttelte.
»Sie hat ständig Angst, ich könnte sterben. Wegen
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